59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Entstehungskonzepte psychiatrischer und psychosomatischer Krankheitsbilder bei türkischen Arbeitsmigrant:innen in der Bundesrepublik (1970 bis 2000)
Text
Hintergrund: Seit den 70er Jahren stellten Allgemeinärzt:innen oft die erste Anlaufstelle für die sogenannten Gastarbeiter:innen und deren vielfältige Probleme (psycho)somatischer Art dar. Sprachliche und kulturelle Hürden erschwerten Deutung, Diagnosestellung und Therapie von Beschwerden bei psychisch belasteten Migrant:innen. Bis heute fehlt es im Umgang mit dieser besonderen Patientengruppe an einer klaren Handlungsempfehlung für die Primärversorgung.
Zielsetzung/Fragestellung: Ziel dieses medizinhistorischen Beitrags ist es, Deutungsmuster zur Entstehung psychiatrischer und psychosomatischer Krankheitsbilder sowie deren Folgen für Diagnostik und Therapie bei türkischen Arbeitsmigrant:innen zu rekonstruieren und die Relevanz der Ergebnisse für die heutige Versorgung zu diskutieren.
Material und Methoden: Mittels historisch-diskursanalytischer Methodik wurden zwischen 1960–2000 veröffentlichte Publikationen, Kongressbeiträge und Berichte kommunaler Beratungsstellen aus der BRD analysiert. Das Akkulturationsmodell nach Berry diente dabei als konzeptioneller Rahmen. Abschließend werden die Ergebnisse der Diskursanalyse mit aktuellen Studien in Beziehung gesetzt.
Ergebnisse: Zwischen 1970 und 2000 wurden vier Konfliktfelder wiederholt als Ursache für psychische Belastung von türkischen Arbeitsmigrant:innen beschrieben: Die Familie, die Arbeit, die deutsche Gesellschaft und das Gesundheitssystem. Diese wurden vor allem mit Somatisierungsstörungen, depressiven Syndromen und paranoiden Reaktionen in Verbindung gebracht. Deutungsmuster variierten abhängig vom fachlichen Hintergrund sowie vom gesellschaftspolitischen Klima in der BRD. Es zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit den Konfliktfeldern weder systematisch erfolgte, noch nachhaltig in einheitliche Versorgungsstrukturen überführt wurde: Bis Ende des Untersuchungszeitraums war eine adäquate Diagnosestellung und Therapie von der individuellen ärztlichen Bereitschaft abhängig, kulturelle und sprachliche Differenzen zu überwinden.
Diskussion: Trotz zunehmender Vielfalt von Migrationsbiografien prägen die vier Konfliktfelder weiterhin die Versorgung migrantischer Patient:innen. Aktuelle Ansätze wie die interkulturelle Öffnung und Kompetenzförderung innerhalb des Gesundheitswesens setzen an den damit verbundenen Herausforderungen an. Eine systematische Handlungsempfehlung für die Primärversorgung fehlt weiterhin. Hieran könnten künftige Studien anknüpfen.
Take Home Message für die Praxis: Gestern verstehen – mit Blick auf Migrationsgeschichte die Versorgung von heute verbessern.