59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Versterben unter Pandemiebedingungen: Psychische Belastungen und psychosozialer Unterstützungsbedarf bei hinterbliebenen An- und Zugehörigen – erste Ergebnisse der EMBRACE-ME-Studie
2Universitätsmedizin Göttingen, Klinik für Palliativmedizin, Göttingen, Deutschland
Text
Hintergrund: Die COVID-19-Pandemie hat die Begleitung Sterbender sowie die Unterstützung für An- und Zugehörige stark eingeschränkt. Kontaktbeschränkungen haben zum Teil dazu geführt, dass An- und Zugehörige nicht von Sterbenden Abschied nehmen konnten. Unklar ist, welche Folgen das Versterben unter Pandemiebedingungen für Hinterbliebene hat.
Zielsetzung/Fragestellung: In der EMBRACE-ME Studie (FKZ: 10LZF23; Laufzeit: 1/2024–12/2025) soll exploriert werden, wie An- und Zugehörige das Versterben einer nahestehenden Person während der Pandemie erlebt haben. Ferner soll untersucht werden, ob (anhaltende) psychosoziale Unterstützungsbedarfe bei den Hinterbliebenen bestehen.
Material und Methoden: An- und Zugehörige, die während der Pandemie einen nahestehenden Menschen verloren haben, werden in narrativen Interviews zu ihren Erfahrungen befragt (08/2024–06/2025). Die Interviews werden inhaltsanalytisch nach Mayring mit MAXQDA ausgewertet.
Ergebnisse: Vorläufige Ergebnisse der bisher geführten 42 Interviews (Stand: 25.04.2025) zeigen, dass Hinterbliebene die letzte Lebensphase als sehr belastend erlebten. Strikte Kontaktbeschränkungen und fehlende Möglichkeiten, sich von Sterbenden zu verabschieden, wurden von den Hinterbliebenen kritisiert und mit ihrer teils erschwerten Verlustverarbeitung in Verbindung gebracht. Sie beschrieben Wut und Ohnmachtserfahrungen durch einen erlebten Kontrollverlust bei der Versorgung am Lebensende sowie anhaltende Schuldgefühle. Die Interviews waren durch eine hohe Emotionalität und den Wunsch geprägt, gehört zu werden und die persönlichen Erfahrungen zu teilen. Es zeigten sich fehlende psychosoziale Unterstützung zum Zeitpunkt des Verlustes und ein zum Teil anhaltender Unterstützungsbedarf bei den Hinterbliebenen.
Diskussion: Der Wunsch, gehört zu werden, sowie Schilderungen über Ohnmachtserfahrungen und (Kontroll-)Verluste während der Pandemie zeigen den individuellen Aufarbeitungsbedarf des Erlebten, während Verluste und Folgen der Pandemie gesellschaftlich wenig Aufmerksamkeit erfahren. Hausärzt:innen und andere Gesundheitsdienstleistende, die in der Grundversorgung mit psychosomatischen Symptomen konfrontiert sind, sollten für diese Belastungen und den Bedarf an psychosozialen Unterstützungsmöglichkeiten sensibilisiert werden.
Take Home Message für die Praxis: Der Verlust einer nahestehenden Person unter Pandemiebedingungen führte zum Teil zu anhaltenden Belastungen bei Hinterbliebenen, was bei der psychosomatischen Grundversorgung u.a. durch ihre Hausärzt:innen berücksichtigt werden sollte.