59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Erfahrungen pflegender Angehöriger in der COVID-19-Pandemie – eine Mixed-methods-Studie
2Universitätsklinikum Bonn, Klinik für Palliativmedizin, Bonn, Deutschland
3Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Mainz, Deutschland
4Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, II. Medizinische Klinik, Palliativmedizin, Hamburg, Deutschland
Text
Hintergrund: Über 80% der 5 Millionen pflegebedürftigen Personen (PP) in Deutschland werden durch Angehörige versorgt. Bereits vor der COVID-19-Pandemie waren pflegende Angehörige (PA) erheblichen Belastungen ausgesetzt. Studien zeigen, dass die Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen die Situation PA zusätzlich verschärfte.
Zielsetzung/Fragestellung: Die Mixed-Methods-Studie ist Teil des BMBF-geförderten und NUM-koordinierten Projekts „CollPan“. Wir untersuchten, wie sich Pandemie und Schutzmaßnahmen auf PA und häusliche Pflege auswirkten.
Material und Methoden: PA wurden über Pflegedienste, Flyer und soziale Netzwerke rekrutiert. Es wurde ein Fragebogen (online/paper) erhoben und semistrukturierte Interviews durchgeführt (Dez. 23–Aug. 24). Es wurden zentr. Tendenzen berechnet. Interviews wurden deduktiv-induktiv mit der Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet.
Ergebnisse: Von 192 Fragebögen wurden 180 in die Analyse eingeschlossen (mw: 54 J., 76% weiblich) und 30 Interviews ausgewertet (md: 55-64 J., 80% weiblich). Etwa 59% der PA befürchteten eine eigene Infektion und 77% hatten Angst, ihre PP anzustecken. Ähnliche Ängste sowie ein hohes Verantwortungsgefühl für den Schutz der PP wurden auch von Interviewten berichtet. Lockdown (54%) und Testpflicht (55%) wurden im Fragebogen als besonders einschränkend angegeben, während Interviewte Besuchsverbote, welche ein Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust auslösten, als besonders belastend empfanden. Bei 68% hatte sich der Pflegeaufwand in der Pandemie erhöht. Auch Interviewte berichteten Mehraufwand durch Schutzmaßnahmen und Ausfall von Pflegediensten. In den Freikommentaren des Fragebogens und in den Interviews wurde die fehlende Unterstützung durch die Politik beklagt. PA fühlten sich von ihr alleine gelassen. Für 68% stand die Familie als Unterstützung zur Verfügung. Auch in Interviews wurde die Familie als wichtige Ressource genannt.
Diskussion: Die pandemischen Schutzmaßnahmen führten bei den meisten PA zu erheblicher Mehrbelastung, die teilweise bis heute spürbar ist. Unterstützung durch Politik und Gesundheitssystem war unzureichend. Die Ergebnisse geben vertiefenden Einblick in das Erleben einer vulnerablen Gruppe. Die retrospektive Betrachtung und mögliche selektive Teilnahme der PA können limitierend sein. Interviews zeigen jedoch, dass sich einige Erfahrungen deutlich in das Gedächtnis der PA eingebrannt haben.
Take Home Message für die Praxis: Deutschland soll bei der Vorbereitung auf zukünftige Pandemien die Angehörigenpflege stärker berücksichtigen. Unabhängig von Krisenzeiten benötigt PA mehr Unterstützung.