Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Was denken und wissen Medizinstudierende in Deutschland zu Schwangerschaftsabbrüchen?
2Universität Witten/Herdecke, Lehrstuhl für die Ausbildung personaler und interpersonaler Kompetenzen im Gesundheitswesen, Witten, Deutschland
Text
Fragestellung/Zielsetzung: Durch die Debatten um § 219a und 218 StGB ist der Schwangerschaftsabbruch wieder in das öffentliche Bewusstsein gelangt. Dies ist notwendig, denn jede 6.-7. Frau in Deutschland hat am Ende ihrer fruchtbaren Zeit mindestens eine Schwangerschaft abgebrochen [https://www.mehralsdudenkst.org/]. Die Zahl der Einrichtungen, die Abbrüche durchführen, nimmt jedoch kontinuierlich ab [1]. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Insbesondere die Rolle von Medizinstudierenden zur späteren Sicherung der Versorgung von ungewollt Schwangeren ist unzureichend erforscht. Ziel der Studie war es, Einstellungen und Wissen von Medizinstudierenden in Deutschland zum Thema Schwangerschaftsabbruch zu erheben.
Methoden: Die Querschnittsstudie an allen staatlichen und privaten Medizinfakultäten in Deutschland (n=47) nutzte einen Online-Fragebogen auf Basis einer systematischen Literaturrecherche, der in mehreren Schritten mit Expert*innen abgestimmt und mit Medizinstudierenden pilotiert wurde. Er umfasste 11 Fragen zu Einstellungen und 5 zu soziodemographischen Daten. Der Wissenstest bestand aus 10 MC-Fragen, die sich an den Lernzielen des NKLM zu Abbrüchen orientierten [https://nklm.de/zend/menu]. Die Rekrutierung der Studienteilnehmer*innen aus der Grundgesamtheit aller Medizinstudierenden (n=ca. 108.000) erfolgte per E-Mail über die Fachschaften, Newsletter des BVMD und des Marburger Bundes, soziale Netzwerke sowie Studiendekan*innen. Es wurde eine Rücklaufquote von 10% angestrebt.
Ergebnisse: Insgesamt nahmen 3.634 Studierende aus allen Universitäten und aus allen Fachsemestern teil (Rücklaufquote: 3,4%). Die Zustimmung zum Selbstbestimmungsrecht der Frau war hoch; 14% sahen aber zumindest z.T. das potenzielle Lebensrecht des Embryos über dem Selbstbestimmungsrecht der ungewollt Schwangeren stehen. 58% konnten sich vorstellen, später als Ärzt*in selbst Abbrüche durchzuführen. 37% gaben an, dass das Thema Abbrüche im Regelunterricht vorkam, am häufigsten in der Gynäkologie; diese Zahl steigt bis zum Ende des Studiums nur wenig an. Fragen im Wissenstest zur rechtlichen Lage wurden gut beantwortet; Unsicherheiten zeigten sich bei Fragen zu Arzt-/Berufsgruppen, die Abbrüche durchführen dürfen. Komplikationen bei nachfolgenden Schwangerschaften und psychische Folgen wie PTBS wurden fälschlicherweise als häufigste Komplikationen bei chirurgischen Abbrüchen genannt.
Diskussion: Medizinstudierende in Deutschland sind als überwiegend Pro-Choice einzuschätzen. Viele erwerben bis zum Ende ihres Studiums kein Anwendungswissen zu Schwangerschaftsabbrüchen. Der Mythos, dass Abbrüche häufig schwerwiegende psychische Erkrankungen auslösen, hält sich hartnäckig. Einschränkend muss auf die niedrige Teilnehmerzahl und die Möglichkeit eines Selbst-Selektionsbias hingewiesen werden.
Medizinstudierende benötigen eine wissenschaftliche und patient*innenzentrierte Lehre zur Versorgung von ungewollt Schwangeren, um sie im späteren Berufsleben bestmöglich beraten und versorgen zu können. Davon sind wir derzeit weit entfernt.