59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
59. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Gewichtsbezogene Stigmatisierung unter Allgemeinmediziner:innen – eine Online-Befragung
Text
Hintergrund: Der Anteil adipöser Patient:innen steigt auch in Deutschland. Gewichtsbezogene Stigmatisierung durch medizinisches Personal ist weit verbreitet und beeinträchtigt die Versorgung dieser Patientengruppe. Aus Deutschland gibt es keine aussagekräftigen Studien, ob sich auch Allgemeinmediziner:innen stigmatisierend verhalten.
Zielsetzung/Fragestellung: In welchem Ausmaß liegt gewichtsbezogene Stigmatisierung unter Allgemeinmediziner:innen in Deutschland vor? Welche Einflussfaktoren sind für stigmatisierendes Verhalten relevant und was berichten Ärzt:innen zu ihrem Wissensstand und ihrer Einstellung zu adipösen Patient:innen?
Material und Methoden: Unsere Online-Umfrage (SoSci Survey) umfasst 65 Fragen, wobei subjektive Einschätzungen mittels 5-Punkte-Likert-Skalen erfasst werden. Gewichtsbezogene Stigmatisierung wird mit der deutschen Version der „Fat Phobia Scale“ (FPS) gemessen, die Begriffspaare auf einer 5-Punkte-Skala als semantisches Differenzial abbildet.
Die Datenerhebung erfolgte über verschiedene Newsletter (z.B. JADE) und die Kompetenzzentren für Allgemeinmedizin in sechs Bundesländern (Dezember 2023 bis August 2024).
Ergebnisse: 79 Datensätze wurden ausgewertet. Das mittlere Alter der Teilnehmenden liegt bei 49,3 Jahren. 60,8% der Befragten haben >6 Jahre hausärztliche Praxiserfahrung, 15,2% befinden sich in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung, 55,7% sind weiblich.
Der mittlere FPS-Score beträgt 3,75 (Grenzwert: >2,5). Sechs Items zeigen Werte zwischen 3,9 und 4,3, was einer deutlichen Zustimmung zu negativen, stigmatisierenden Attributen gegenüber adipösen Menschen entspricht. Bei Fragen zum Praxisalltag geben lediglich 45,5% der Befragten an, dass sie starke Adipositas „ohne spezifischen Anlass“ „häufig“ oder „sehr häufig“ ansprechen. Nur <10% stimmen „eher zu“ oder „voll zu“, dass Studium/Weiterbildung „ausreichend auf die Behandlung von Adipositas“ vorbereitet haben.
Diskussion: Die Ergebnisse bestätigen das Vorhandensein gewichtsbezogener Stigmatisierungstendenzen bei Allgemeinmediziner:innen: Der mittlere FPS-Score (3,75) ist sogar höher als der in der Allgemeinbevölkerung (3,62; Stein et al., 2014). Starke Adipositas wird im Praxisalltag nicht immer angesprochen und zu wenig in der Weiterbildung thematisiert.
Take Home Message für die Praxis: Für den Abbau gewichtsbezogener Stigmatisierungstendenzen in der hausärztlichen Versorgung ergibt sich u.a. die Forderung nach einem stärkeren Fokus im Studium und der ärztlichen Aus- und Weiterbildung.