Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Interprofessionelle Lehre im Medizinstudium – habituelle Dispositionen und sozialisierende Einflussfaktoren bei Medizinstudierenden
Text
Fragestellung/Zielsetzung: Angesichts der immensen Herausforderungen des demographischen Wandels wächst die Bedeutung eines medizinischen Handelns, das auf interprofessionelle Zusammenarbeit hin ausgerichtet ist. Dazu sollen die, an der Versorgung beteiligten Professionen vermittels einer interprofessionellen Lehre (Interprofessional Education (IPE)) zur Teamarbeit befähigt werden [1]. Ziele von IPE sind die Verbesserung der Patientenversorgung durch Synergieeffekte sowie ein Wandel der Medizinkultur, der Machtstrukturen zwischen den Berufen überwindet [2]. Dabei können sich beruflich erworbene Machtpositionen als Habitus in den Einstellungen der Akteure widerspiegeln. Habitus sind unbewusste, durch Sozialisation erworbene und verinnerlichte Handlungsorientierungen [3]. Die Habitusbildung im Rahmen von IPE ist bislang wenig erforscht. Daher untersucht die von der Internen Forschungsförderung (Universität Witten/ Herdecke) geförderte Studie „Habitus in der IPE“ Handlungsorientierungen und einflussnehmende Sozialisationsfaktoren bei Medizinstudierenden mit IPE-Erfahrung.
Methoden: Die Habitus von Medizinstudierenden werden entlang fallvergleichender Analysen von vier Gruppendiskussionen (à 3-4 Personen) zu Erfahrungen in interprofessioneller Lehre und Zusammenarbeit – trianguliert mit biographischen Interviews – rekonstruiert. Das qualitative Interpretationsverfahren der Dokumentarischen Methode gilt in der Bildungs- und Habitusforschung als erprobt. Dabei wird vertiefend nach dem sozialisierenden Einfluss von Primärqualifikationen (PQ) bei Medizinstudierenden mit abgeschlossener/em Berufsausbildung/ Studium zumeist in Pflege- und Therapieberufen im Vergleich zu Medizinstudierenden ohne PQ geforscht.
Ergebnisse: Bei Medizinstudierenden ohne PQ zeigt sich ein gesprächsorientierter, lernender kollektiver Habitus: Dieser versteht die ärztliche Profession als über die interprofessionelle Visite in eine gemeinsame Zielsetzung integriert. Demgegenüber zeigt sich bei Medizinstudierenden mit PQ ein strukturorientierter, expertokratischer kollektiver Habitus, der die ärztliche Profession durch ein Casemanagement von der interprofessionellen Problemlösung ausgrenzt und in klassischer Weise übergeordnet positioniert. Als professionssozialisierende Faktoren wirken daher u.a. mutmaßlich Erfahrungen aus dem klinischen Berufsalltag, insofern sie bei Medizinstudierenden mit PQ eine fehlende Rollendistanz verbunden mit Rollenkonflikten erkennen lassen.
Diskussion: Damit deutet sich bei Medizinstudierenden mit einer interprofessionellen Berufsbiographie eine klassische, arzt-zentrierte Handlungsorientierung und bei Medizinstudierenden ohne PQ das angestrebte problemlösungsorientierte, interprofessionelle Teamverständnis an. Dies lässt die Frage danach diskutieren, wie die habituellen Dispositionen der (hier) Medizinstudierenden mit PQ in bisherigen IPE-Formaten weitergebildet werden können und ob es der Entwicklung einer speziellen habitussensiblen IPE bedarf.
Literatur
[1] Canadian Interprofessional Health Collaborative, editors. CIHC Competency Framework for Advancing Collaboration. Canadian Interprofessional Health Collaborative; 2024. Zugänglich unter/available from: https://www.cihc-cpis.com[2] Ewers M, Schaeffer D. Interprofessionelles Lernen, Lehren und Arbeiten auf holprigen Wegen. In: Ewers M, Paradis E, Herinek D, editors. Interprofessionelles Lernen, Lehren und Arbeiten. Gesundheits- und Sozialprofessionen auf dem Weg zu kooperativer Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2019. p.55-69.
[3] Krais B, Gebauer G. Habitus. Bielefeld: Transkript; 2014.