Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Geschlechterunterschiede in der Selbsteinschätzung von Medizinstudierenden – eine Regressionsanalyse
Text
Zielsetzung: Mediziner*innen müssen sich im Berufsleben kontinuierlich weiterbilden, Wissen aktualisieren und neue medizinische Praktiken erlernen. Hierfür müssen sie ihr Wissen und Können einschätzen und Lücken selbstständig schließen [1]. Bestehende Studienergebnisse zeigen, dass wichtige Moderatoren der Selbsteinschätzung u.a. durch das Geschlecht beeinflusst werden [2]. Daher ist davon auszugehen, dass auch bei der Selbsteinschätzung Geschlechterunterschiede vorliegen. Das Ziel dieser Studie ist, Geschlechterunterschiede in der Genauigkeit der Selbsteinschätzung von Medizinstudierenden zu untersuchen und deren Ausmaß zu quantifizieren.
Methoden: Für die Studie wurden die Studierenden der Medizinischen Fakultät OWL aus drei Kohorten im Zeitraum von 10/2022 bis 04/2024 viermal im Rahmen der Durchführung des Progress Tests Medizin (PTM) befragt. Sie sollten ihr Wissen in den Bereichen „operative Fächer“, „nicht-operative Fächer“, „Diagnose“, „Pathogenese“ und „Therapie“ einschätzen und angeben, welchen prozentualen Anteil der PTM-Fragen aus diesen Wissensbereichen sie vermutlich richtig beantworten können.
Operationalisiert wurde die Genauigkeit der Selbsteinschätzung als Differenz zwischen Selbsteinschätzung und tatsächlichem Testscore in den jeweiligen Wissensbereichen. Für die Analyse wurden fünf lineare Regressionsmodelle mit der Genauigkeit der Selbsteinschätzung als Regressand und dem Geschlecht, Studienfortschritt und Wissen der Studierenden als Regressoren berechnet.
Ergebnisse: Es nahmen 181 Studierende mit 442 Datensätzen freiwillig teil (96,5% Teilnahmequote; 66,75% Frauen, 33,25% Männer; Alter: M=21,96 Jahre, SD=3,61). Die Regressionsmodelle waren signifikant und erklärten zwischen 17,4% und 29% der Varianz (adj. R2). Die Regressoren Geschlecht, Semester und Wissen hatten durchweg signifikante Effekte. Die Effekte des Geschlechts und Semesters waren negativ, der Effekt des Wissens positiv. Inhaltlich zeigen die Modelle:
- Männer schätzten sich genauer ein (β zw. -0,14 und -0,24).
- Mit steigendem Semester verbesserte sich die Selbsteinschätzung (β zw. -0,14 und -0,3).
- Höheres Wissen führte zu ungenaueren Selbsteinschätzungen (β zw. 0,44 und 0,69).
Diskussion: Die Ergebnisse zeigen Geschlechterunterschiede in der Selbsteinschätzung zugunsten männlicher Studierender. Da eine ungenaue Selbsteinschätzung z.B. die Selbstwirksamkeit und das Engagement negativ beeinflussen kann [3], sollten gezielte Maßnahmen zur Förderung der Selbsteinschätzung, insb. für weibliche Studierende, im Medizinstudium verankert werden. Der kontraintuitive Einfluss des Wissens könnte darauf hindeuten, dass die Studierenden insgesamt unterschätzen, wie viel sie im Studium lernen, und ihr Wissen relativ zum gesamten Studienwissen nicht einordnen können.
Take Home Message:
- Weibliche Medizinstudierende schätzen ihr Wissen weniger genau ein als männliche.
- Maßnahmen zur Förderung der Selbsteinschätzung, insb. für Frauen, sollten im Medizinstudium verankert werden.
Literatur
[1] Sargeant J, Armson H, Chesluk B, Dornan T, Eva K, Holmboe E, Lockyer J, Loney E, Mann K, van der Vleuten C. The Processes and Dimensions of Informed Self-Assessment: A Conceptual Model. Acad Med. 2010;85(7):1212-1220. DOI: 10.1097/ACM.0b013e3181d85a4e[2] Torres-Guijarro S, Bengoechea M. Gender differential in self-assessment: a fact neglected in higher education peer and self-assessment techniques. High Educ Res Dev. 2016;36(5):1072-1084. DOI: 10.1080/07294360.2016.1264372
[3] Brown G, Harris LR. Student Self-Assessment. In: McMillan JH, editor. SAGE Handbook of Research on Classroom Assessment. Thousand Oaks: SAGE Publications, Inc.; 2013. p.367-393. DOI: 10.4135/9781452218649.n21