Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung
Blickmuster während mono- und interprofessioneller klinischer Entscheidungsfindung
Text
Fragestellung/Zielsetzung: Kollaborative klinische Entscheidungsfindung (Collaborative Clinical Reasoning, CCR) beschreibt den Prozess, durch den Gesundheitsfachkräfte gemeinsam zu medizinischen Entscheidungen gelangen. Dieser Prozess ist für die Patientenversorgung von zentraler Bedeutung. Trotz seiner Wichtigkeit bestehen noch erhebliche Wissenslücken darüber, wie verschiedene professionelle Konstellationen – Einzelarbeit, monoprofessionelle- und interprofessionelle Zusammenarbeit – den klinischen Entscheidungsprozess und damit verbundene Verhaltensweisen beeinflussen.
Methoden: Zur Untersuchung dieser Unterschiede führten wir ein Experiment mit Medizin- und Pflegestudierenden des dritten und vierten Studienjahres durch. Die Teilnehmenden mussten komplexe Patientenfälle unter strikten Zeitvorgaben evaluieren. In einem randomisierten Versuchsdesign mit Messwiederholung wurden die Teilnehmenden drei verschiedenen Bedingungen zugeordnet: Einzelproblemlösung (31 Teilnehmende), monoprofessionelle Paare (14 Paare) und gemischte Medizin-Pflege-Paare (14 Paare). Unsere Bewertungsmethodik umfasste sowohl Leistungsmessungen als auch Blickbewegungsanalysen. Zwei unabhängige Gutachter bewerteten die diagnostische Genauigkeit, die Fähigkeit zur Entwicklung von Differentialdiagnosen sowie die Qualität der therapeutischen Empfehlungen. Zur Erfassung der Blickmuster wurde ein mobiles Dual-Eye-Tracking-System eingesetzt.
Ergebnisse: Die Datenanalyse mittels Generalisierter Linearer Gemischter Modelle ergab drei zentrale Befunde:
- Beide kollaborativen Bedingungen zeigten vergleichbare Leistungsniveaus (monoprofessionell: M=4.09±0.138 SE; interprofessionell: M=3.99±0.193) und übertrafen signifikant die Einzelproblemlösung (M=2.74±0.182, p<0.001).
- Es zeigte sich ein moderater professionsbezogener Effekt, wobei Medizinstudierende (M=3.87±0.13) minimal bessere Leistungen erzielten als Pflegestudierende (M=3.43±0,15, p=0.043).
- Besonders aufschlussreich waren die Eye-Tracking-Daten: Interprofessionelle Paare wiesen signifikant höhere Fixationszahlen auf als monoprofessionelle Paare (872.89±8.63 vs. 827.99±12.49 Fixationen, p=0.002), was auf eine andere visuelle Auseinandersetzung mit den Aufgaben während interprofessioneller Zusammenarbeit hindeutet.
Diskussion: Diese Ergebnisse bestätigen, dass CCR die Leistung verbessern kann, vermutlich aufgrund der überlegenen Fähigkeit von Teams, Informationen wahrzunehmen, zu verarbeiten, zu speichern und zu synthetisieren. Die unterschiedlichen Blickbewegungsmuster bei interprofessionellen Paaren deuten darauf hin, dass professionelle Diversität die visuelle Wahrnehmung und Verarbeitung klinischer Informationen im Vergleich zu monoprofessionellen Paaren beeinflusst. Diese Forschung liefert erste Evidenz für unterschiedliche Blickmuster je nach professioneller Konstellation und eröffnet neue Perspektiven für das Verständnis der spezifischen Vorteile und Herausforderungen mono- und interprofessioneller klinischer Entscheidungsfindung.