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Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung


08.-10.09.2025
Düsseldorf


Meeting Abstract

Digitale Lernformate am Limit. Wo stößt virtuelle Lehre an ihre Grenzen?

Morris Gellisch 1,2
Thorsten Schäfer 1
Beate Brand-Saberi 2
1Ruhr-Universität Bochum, Zentrum für Medizinische Lehre, Bochum, Deutschland
2Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Anatomie und Molekulare Embryologie, Bochum, Deutschland

Text

Fragestellung/Zielsetzung: Die fortschreitende Digitalisierung verändert die Hochschullehre grundlegend – doch bleibt offen, ob digitale Lernformate in allen Kontexten eine gleichwertige Alternative zur Präsenzlehre bieten können. Besonders in praxisorientierten Fächern könnte die digitale Wissensvermittlung an ihre Grenzen stoßen. Angesichts der aktuellen Transformation der Bildungslandschaft ist es daher unerlässlich, die Auswirkungen digitaler Formate differenziert zu untersuchen, um fundierte Entscheidungen für die zukünftige Gestaltung der Lehre zu ermöglichen (siehe Abbildung 1 [Fig. 1]). Um dies zu untersuchen, haben wir ergänzend zum regulären Histologieunterricht zwei freiwillige Guided-Self-Study-Optionen eingeführt, die auf Vergleichbarkeit und Ausgewogenheit ausgelegt waren:

Abbildung 1: Zeitlicher Ablauf der Anatomie-Lernaktivitäten: Strukturierte Präsenz- und Selbststudienphasen
Dieses Flussdiagramm zeigt die Abfolge der Anatomie-Lernaktivitäten vom 21. Oktober 2023 bis zum 29. Januar 2024. Microscopic Anatomy I (rote Kreise) und Microscopic Anatomy III (gelbe Kreise) fanden regelmäßig statt, begleitet von face-to-face guided self-study Sessions (güne Kreise). Ein kontinuierliches digitales guided self-study Angebot (blaue Linie) war das gesamte Semester über verfügbar. Die Zeitleiste umfasst eine Winterpause, gefolgt von Anatomieprüfungen und einer Follow-up-Umfrage zur Lernerfahrung der Studierenden.

  • Face-to-Face Selbstlernen: Freies Mikroskopieren im Histologiesaal mit Peer-Led Unterstützung durch Tutor*innen.
  • Digitales Selbstlernen: Interaktives Online-Forum mit hochauflösender virtueller Mikroskopie. Studierende konnten Screenshots an Tutor*innen senden und erhielten gezielte digitale Unterstützung.

Hypothesen:

  • Nutzungsverhalten und Präferenzen: Welche Guided-Self-Study-Option wird bevorzugt und warum?
  • Lernerfolg und Motivation: Gibt es Unterschiede in der Prüfungsleistung und Motivation zwischen digitalen und face-to-face Angeboten?
  • Contextual Digital Divide: Inwiefern beeinflussen kontextspezifische Faktoren die Effektivität digitaler vs. face-to-face Lernformate?

Methoden: 684 Medizinstudierende im Kurs „Mikroskopische Anatomie“ konnten frei zwischen den beiden Guided-Self-Study-Optionen wählen.

Quantitative Analysen: Nutzungsverhalten und Prüfungsergebnisse wurden verglichen, um Leistungsunterschiede zu identifizieren.

Qualitative Daten aus Fragebögen gaben Einblicke in Präferenzen und subjektive Lernerfahrungen.

Ergebnisse: 78,44% bevorzugten das face-to-face Angebot aufgrund der direkten Interaktion mit Tutor*innen (61,38%) und Peer-Learning (74,25%). Das digitale Angebot wurde von 39,91% genutzt, trotz hoher technischer Akzeptanz (97%).

Studierende im face-to-face Format zeigten bessere Prüfungsergebnisse (Durchfallquote: 13,69% vs. 22,04% bei digital Lernenden) und berichteten von höherer Motivation (siehe Abbildung 2 [Fig. 2]).

Abbildung 2: Antwortverteilung im Follow-up-Fragebogen: Häufigkeiten und Gruppierung
Die Abbildung zeigt die Verteilung der Antworten auf die Follow-up-Fragebogenitems (Q1-1 bis Q4-3), gekennzeichnet von (A) bis (R). Jedes Balkendiagramm stellt die Antworthäufigkeiten für ein einzelnes Item dar, gruppiert nach den Likert-Skalen-Optionen. Die Farbkodierung erfolgt wie folgt: Blautöne für Q1-Items (A-E), Grüntöne für Q2-Items (F-J), Rosatöne für Q3-Items (K-O) und Gelbtöne für Q4-Items (P-R).
Der genaue Inhalt jedes dargestellten Items ist bei Gellisch et al. ([1], Tabelle 2) ersichtlich.

Contextual Digital Divide: Das digitale Angebot erfüllte die Anforderungen an praxisnahe, interaktive Lernkontexte nicht ausreichend. Face-to-face Formate wurden als motivierender und effektiver wahrgenommen.

Diskussion: Mit dem Begriff „Contextual Digital Divide“ beschreibt diese Studie eine Lücke, die entsteht, wenn digitale Lernformate aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften spezifische Anforderungen eines Lernkontextes nicht erfüllen können – selbst bei optimalem Design. Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass insbesondere in praxisnahen, interaktiven Szenarien face-to-face Formate eine höhere Effektivität aufweisen. Der Begriff dient als Ansatz, um gezielt Lernsituationen zu identifizieren, in denen digitale Lösungen an ihre Grenzen stoßen [1].


Literatur

[1] Gellisch M, Cramer J, Trenkel J, Bäker F, Bablok M, Morosan-Puopolo G, Schäfer T, Brand-Saberi B. Introducing the contextual digital divide: Insights from microscopic anatomy on usage behavior and effectiveness of digital versus face-to-face learning. Anat Sci Educ. 2025;18(4):347-364. DOI: 10.1002/ase.70010