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41. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
25.-28.09.2025
Münster


Poster

Hörbezogene Lebensqualität bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung – Ergebnisse aus der Studie „HörGeist“

S. Zielonkowski 1
P. Mathmann 1
A. Naghipour 1
S. Wasmuth 1
L. Prein 1
W. Brannath 2
M. Scharpenberg 2
V. Jankovic 2
A. Neumann 3
K. Schwarze 3
K. Schäfer 4
C. Speckemeier 5
K. Neumann 1
1Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
2Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
3Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Duisburg-Essen, Deutschland
4Institut für Sonderpädagogik (Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik), Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
5Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH, Essen, Deutschland

Abstract

Hintergrund: Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen (iB) weisen deutlich häufiger Hörstörungen auf als die Allgemeinbevölkerung. Diese bleiben jedoch meist unerkannt und unbehandelt. Da hörbezogene Lebensqualität ein relevanter Parameter für den Versorgungserfolg sein könnte, wurde im Rahmen eines Projekts zur niedrigschwelligen Identifikation und Behandlung von Hörstörungen bei Menschen mit iB ein Fragebogen zur Erfassung der hörbezogenen Lebensqualität entwickelt. Ziel war zu prüfen, ob der Hörstatus durch die betroffenen Personen selbst und/oder ihre Betreuungspersonen korrekt eingeschätzt werden kann und ob ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Hörstörung und der hörbezogenen Lebensqualität besteht.

Material und Methoden: In der vom G-BA-Innovationsfonds (Förderkennzeichen 01NVF18038) geförderten prospektiven Kohortenstudie „HörGeist“ erhielten 1.053 Personen mit iB ein Hörscreening und bei Bedarf eine sich anschließende Diagnostik und Therapieeinleitung in ihrem Lebensumfeld. Ergänzend beantworteten deren Betreuungspersonen einen neu entwickelten Fragebogen zur hörbezogenen Lebensqualität. Zudem erfolgte eine subjektive Hörstatus-Einschätzung durch Teilnehmende und Betreuungspersonen. Diese Angaben wurden mit den Ergebnissen der audiometrischen Untersuchungen verglichen. Der Zusammenhang zwischen Hörstärke und hörbezogener Lebensqualität wurde mittels multivariabler Regressionsanalyse analysiert.

Ergebnisse: Für mehr als tausend Teilnehmende lagen auswertbare Daten vor. In über 40% wurde eine bislang unerkannte Hörstörung diagnostiziert. Sowohl die Teilnehmenden als auch deren Betreuungspersonen konnten den Hörstatus ca. zwei Drittel der Fälle korrekt einschätzen, allerdings zeigte sich eine Tendenz zur Überschätzung der Hörfähigkeit. Die durchschnittliche Bewertung der hörbezogenen Lebensqualität durch die Betreuungspersonen fiel relativ positiv aus. Die multivariable Regressionsanalyse ergab einen schwachen, aber signifikanten Zusammenhang zwischen dem Grad der Hörstörung und der wahrgenommenen hörbezogenen Lebensqualität, die mit zunehmendem Hörverlust tendenziell abnahm.

Schlussfolgerungen: Da weder die subjektive Selbsteinschätzung noch die Fremdeinschätzung des Hörvermögens ausreichend verlässlich für eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung von Menschen mit iB sind und ihre hörbezogene Lebensqualität mit der Schwere einer Hörstörung sinkt, sollten bei allen Personen mit iB regelmäßige Hörtests stattfinden.

Text

Hintergrund

Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen (iB) weisen deutlich häufiger Hörstörungen auf als die Allgemeinbevölkerung [1]. Gleichzeitig bleibt eine Vielzahl dieser Hörstörungen unerkannt und unbehandelt [2], [3], was negative Auswirkungen auf Kommunikation, soziale Teilhabe und die allgemeine Lebensqualität haben kann. Da die hörbezogene Lebensqualität als möglicher Indikator für den Erfolg audiologischer Interventionen diskutiert wird, stellt sich die Frage, ob sie systematisch und valide erfasst werden kann und zwar insbesondere bei Personen mit iB, bei denen kognitive Einschränkungen eine Selbstbeurteilung erschweren können [4]. Ziel der vorliegenden Untersuchung im Rahmen der prospektiven Kohortenstudie „HörGeist – Ein Programm zur niederschwelligen Identifikation von Hörstörungen bei Menschen mit geistiger Behinderung“ war daher erstens die Überprüfung der Zuverlässigkeit von subjektiven Einschätzungen des Hörstatus durch betroffene Personen und/oder ihre Betreuungspersonen sowie des Zusammenhangs zwischen objektivem Hörstatus und hörbezogener Lebensqualität.

Material und Methoden

Die vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderte Studie „HörGeist“ (Förderkennzeichen: 01NVF18038) wurde zwischen 2021 und 2023 in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. In die hier vorgestellte Interventionsgruppe wurden 1.053 Personen im Alter von 1 bis 90 Jahren mit iB eingeschlossen, die in stationären oder teilstationären Wohneinrichtungen lebten und bei der AOK Rheinland/Hamburg krankenversichert waren. Im Rahmen eines mobilen Angebots erfolgte zunächst ein standardisiertes Hörscreening, dem bei auffälligem Befund eine weiterführende audiologische Diagnostik und ggf. Therapieeinleitung im Lebensumfeld der Teilnehmenden folgte. Neben audiometrischen Tests wurden Selbstauskünfte der Teilnehmenden und Einschätzungen ihrer Betreuungspersonen zum Hörstatus sowie ein speziell entwickelter Fragebogen zur hörbezogenen Lebensqualität erhoben. Die hörbezogene Lebensqualität wurde durch neun dimensionale Merkmale abgebildet, die sich auf kommunikative Fähigkeiten, emotionale Aspekte und beobachtbares Verhalten bezogen. Die Daten wurden mittels multivariabler Regression auf Zusammenhänge zwischen objektivem Hörstatus und hörbezogener Lebensqualität geprüft.

Ergebnisse

Für mehr als tausend Teilnehmende lagen auswertbare Daten vor. Bei über 40% der Teilnehmenden wurde eine Hörstörung diagnostiziert, wobei rund 70% dieser Fälle zuvor nicht bekannt waren. Die Übereinstimmung zwischen subjektiver und audiometrisch bestimmter Hörfähigkeit lag bei ca. 60%. In etwa einem Drittel der Fälle wurde das Hörvermögen überschätzt sowohl durch die Teilnehmenden selbst als auch durch ihre Betreuungspersonen. Die durchschnittliche Bewertung der hörbezogenen Lebensqualität durch die Betreuungspersonen fiel relativ positiv aus. Die multivariable Regressionsanalyse ergab einen schwachen, aber signifikanten Zusammenhang zwischen dem Grad der Hörstörung und der wahrgenommenen hörbezogenen Lebensqualität, die mit zunehmendem Hörverlust tendenziell abnahm.

Diskussion

Sowohl die Selbsteinschätzung als auch die Beurteilung durch Betreuungspersonen sind nur begrenzt zuverlässig. Die hohe Dunkelziffer nicht erkannter Hörverluste spricht für eine systematische und objektive Diagnostik. Gleichzeitig zeigt sich, dass die hörbezogene Lebensqualität durch den Schweregrad der Hörstörung beeinflusst wird, insbesondere, wenn diese nicht bekannt ist. Die Neigung zur Überschätzung der Hörfähigkeit legt nahe, dass Hörprobleme bei Menschen mit iB häufig verkannt werden, möglicherweise aufgrund mangelnder Beobachtbarkeit oder eingeschränkter Ausdrucksfähigkeit der Betroffenen. Die Ergebnisse unterstreichen den Nutzen regelmäßiger audiometrischer Untersuchungen. Darüber hinaus sollten weitere Faktoren wie etwa kommunikative Fähigkeiten oder Bewältigungsstrategien berücksichtigt werden, um die hörbezogene Lebensqualität gezielt zu fördern. Die signifikante, wenn auch schwache Korrelation mit dem objektiven Hörstatus unterstreicht die Relevanz dieses Konzepts als ergänzendes Maß im Rahmen der audiologischen Versorgung.

Schlussfolgerung

Da weder die subjektive Selbsteinschätzung noch die Fremdeinschätzung des Hörvermögens ausreichend verlässlich für eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung von Menschen mit iB sind und ihre hörbezogene Lebensqualität mit der Schwere einer Hörstörung sinkt, sind regelmäßige audiometrische Untersuchungen für alle Menschen mit iB unabhängig vom subjektiven Eindruck empfehlenswert. Für eine nachhaltige Verbesserung der Versorgung ist jedoch eine strukturierte Integration der hier vorgeschlagenen Instrumente in bestehende Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen erforderlich.

Anmerkung

Geteilte Erstautorenschaft von Corinna Gietmann und Susanna Zielonkowski.


References

[1] Willems M, van Berlaer G, Maes L, Leyssens L, Koehler B, Marks L. Outcome of 10 years of ear and hearing screening in people with intellectual disability in Europe: A multicentre study. J Appl Res Intellect Disabil. 2022 Jan;35(1):123-133. DOI: 10.1111/jar.12923
[2] Meuwese-Jongejeugd A, Vink M, van Zanten B, Verschuure H, Eichhorn E, Koopman D, Bernsen R, Evenhuis H. Prevalence of hearing loss in 1598 adults with an intellectual disability: cross-sectional population based study. Int J Audiol. 2006 Nov;45(11):660-9. DOI: 10.1080/14992020600920812
[3] Neumann K, Dettmer G, Euler HA, Giebel A, Gross M, Herer G, Hoth S, Lattermann C, Montgomery J. Auditory status of persons with intellectual disability at the German Special Olympic Games. Int J Audiol. 2006 Feb;45(2):83-90. DOI: 10.1080/14992020500376891
[4] Aulbert J. Hörminderung bei Menschen mit geistiger Behinderung [Dissertation]. Charité – Universitätsmedizin Berlin; 2019. DOI: 10.17169/refubium-6825