41. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
41. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
„Ich ging zur Chorprobe und ich hatte nur noch Angst zu singen“ – Aspekte des psychoemotionalen Dysodie-Erlebens betroffener Opernchorsänger*innen
Abstract
Hintergrund: Ein komplexer Bestandteil des Krankheitsbildes Dysodie ist das individuelle psychoemotionale Erleben der betroffenes Sänger*innen. Es bedingt Krankheitsverlauf und Prognose und ist damit von großer Bedeutung für die Dysodiebehandlung und -prävention.
Chorsänger*innen sind dabei besonderen stimmlichen Herausforderungen ausgesetzt und bilden eine Dysodie-Risikogruppe. Die vorliegende empirisch-qualitative Studie beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie sich das psychoemotionale Dysodie-Erleben betroffener Opernchorsänger*innen gestaltet, welche Auswirkungen die Stimmerkrankung hat und welche Konsequenzen die Betroffenen ziehen.
Material und Methoden: Die Datenerhebung erfolgte anhand von semi-strukturierten, qualitativen Einzelinterviews.
Die Proband*innengruppe bildeten fünf Opernchorsänger*innen (Alter: 37–60 J.; 2 w./ 3 m.) eines mitteldeutschen Opernchores, die bereits selbst eine Dysodie erlebt hatten.
Der theoriebasierte Leitfaden unterteilte sich in die Themenblöcke Allgemeine Aspekte/ Auswirkungen/ Behandlung und Verlauf der Dysodie.
Die 60-minütigen Interviews wurden verschriftlicht und mittels qualitativer Inhaltsanalyse (nach Mayring) anhand eines Kategoriesystems ausgewertet, das sich an der wissenschaftlichen Fragestellung der Studie orientierte.
Die Anwendung der Inhaltsanalyse erfolgte mithilfe der Software MAXQDA.
Ergebnisse: Die psychoemotionalen Auswirkungen von Dysodien sind gravierend und betreffen verschiedene Lebensbereiche. Neben beruflichen Einschränkungen bis zur Berufsunfähigkeit umfassen sie private Einschränkungen und psychische Krisen.
Das Arbeitsumfeld „Oper“, geprägt durch Leistungsdruck und Wettbewerb, ist ein wesentlicher Einflussfaktor.
Zentrale Erkenntnis dieser Studie ist die Bedeutung des sozialen Umfelds: Hilfreiche Unterstützung seitens Familie/Freunde stand ein Sensibilitäts- und Verständnismangel bis hin zu Mobbing seitens des beruflichen Umfelds gegenüber.
Schlussfolgerungen: Dysodien bei Opernchorsänger*innen sind ein komplex und beeinträchtigen die stimmliche Leistungsfähigkeit, das psychisches Wohlbefinden und die berufliche Zufriedenheit. Eine ganzheitliche Betreuung und Unterstützung ist von entscheidender Bedeutung, um das Dysodie-Erleben bei Opernchorsänger*innen zu verbessern (Stärkung der Resilienz, Sensibilisierung des beruflichen Umfelds, gezielte Schulung von Dysodietherapeut*innen). Unseres Erachtens bedarf es zudem einer spezialisierte Ausbildung von Dysodietherapeuten.
Text
Hintergrund
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit dem individuellen Erleben von Dysodien bei betroffenen Opernchorsänger*innen. Als körpereigenes Instrument stellt die Singstimme nicht nur das zentrale Ausdrucksmittel von Sänger*innen dar, sie ist zudem das Fenster in die Persönlichkeit und das individuelle emotionale Erleben. Die enorme Stimmbelastung der Berufssänger*innen kann Ursache für Dysodien sein [1]. Diese beeinträchtigen die künstlerische Darbietung, das gesamte Berufs- und Privatleben sowie die psychische Verfassung der betroffenen Sänger*innen. Gleichzeitig handelt es sich um ein gesellschaftlich häufig tabuisiertes oder nicht angemessen wahrgenommenes Thema, mit dem sich betroffene Sänger*innen oftmals allein gelassen fühlen. Insbesondere Chorsänger*innen sind wegen der eingeschränkten Selbstwahrnehmung der eigenen Stimme beim Singen im Chor einem erhöhten Risiko für Stimmerkrankungen ausgesetzt. Die beim chorischen Singen notwendige Stimmanpassung kann zudem eine Vernachlässigung der eigenen Stimmtechnik bewirken [2]. Leistungs- und Konkurrenzgedanken, zu dicht getaktete Proben, fehlende Erholungsphasen und anspruchsvolle Anweisungen von Chorleitung und Regie sind weitere starke Belastungsfaktoren [3]. Auswirkungen von Dysodien sind mitnichten zu bagatellisieren, denn sie können die stimmliche Leistungsfähigkeit bis hin zur Berufsunfähigkeit einschränken. Gleichzeitig ist in einem so leistungsfokussierten Beruf wenig Raum für die persönliche bzw. psychische Bewältigung der Stimmerkrankung gegeben.
Material und Methoden
Es wurden fünf Opernchorsänger*innen (2 wbl. / 3 m.; ø-Alter: 53 Jahre; 37–60 J.; Stimmgattung: 2 Soprane, 1 Tenor, 1 Bariton, 1 Bass) eines großen Opernchores in Ostdeutschland interviewt, die bereits selbst eine Dysodie erlebt hatten. Die Untersuchung erfolgte anhand semi-strukturierter, qualitativer Einzelinterviews. Den Interviews ladg ein theoriebasierter Leitfaden zugrunde, der sich in vier Themenblöcke unterteilte: Allgemeine Aspekte der Dysodie (Ursache / Symptomatik / Symptombeginn), Auswirkungen der Dysodie (beruflich / privat / psychisch), Umgang der Betroffenen mit der Dysodie und Behandlungsprozess und Krankheitsverlauf der Dysodie.
Die Proband*innen wurden zunächst zum freien Bericht mit eigener Relevanzsetzung ermutigt. Weitere relevanten Aspekte wurden im Zuge konkreter Interviewfragen erfasst. Die ca. 60-minütigen Interviews wurden in geschützter Atmosphäre durchgeführt und audiodokumentiert. Die Audioaufnahmen wurden verschriftlicht und anhand der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse [4] mithilfe der Software „MAXQDA“ausgewertet. Im Zentrum der Auswertung stand die Anwendung eines Kategoriesystems, das sich an der zugrundeliegenden Fachliteratur sowie der wissenschaftlichen Fragestellung des Forschungsprojekts und dem Interviewleitfaden orientierte.
Ergebnisse
Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen die Vielschichtigkeit des individuellen Erlebens und Verarbeitens von Dysodien bei Opernchorsänger*innen. Die Auswirkungen von Dysodien sind oftmals gravierend und haben Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche der Betroffenen: Neben massiven Einschränkungen in der beruflichen Ausübung bis hin zur Berufsunfähigkeit umfassen sie persönliche Krisen und psychische Belastungen. Insbesondere das Arbeitsklima an der Oper, das nach Aussage der Sänger*innen durch starken Leistungsdruck und intensiven Wettbewerb geprägt ist, wurde als wesentlicher Einflussfaktor auf das Dysodie-Erleben identifiziert. Die Kombination aus stimmlicher Überlastung, unzureichender Stimmtechnik und den Belastungen des opernchorischen Arbeitsumfelds begünstigen die Entstehung von Stimmerkrankungen.
Eine zentrale Erkenntnis dieser Studie ist dabei die Bedeutung des sozialen Umfelds für den Umgang mit Dysodien. Während im Privaten der Kreis von Familie und Freund*innen als wertschätzend und unterstützend wahrgenommen wurde, berichteten die Proband*innen von mangelnder Sensibilität und Verständnis im beruflichen Umfeld. Auch von Mobbing innerhalb des Kollegiums wurde berichtet. Dies hatte eine Verstärkung des Leidensdrucks und des Isolationsempfindens zur Folge, wodurch das Arbeitsumfeld zu einem zusätzlichen Belastungsfaktor wurde. In Bezug auf die Behandlung von Dysodien wurden unterschiedliche Erfahrungen und Bedürfnisse der Proband*innen identifiziert. Während einige Teilnehmer*innen mit ihrer Behandlung zufrieden waren und eine verbesserte Stimmtechnik erlernten, äußerten andere Unzufriedenheit über Unsicherheit und mangelnde Expertise seitens der Behandler*innen und fehlende Berücksichtigung ihrer berufsspezifischen Anforderungen.
Diskussion
Diese Studie zeigt, dass Dysodien bei Opernchorsänger*innen ein weitreichendes und komplexes Phänomen sind, das nicht nur die stimmliche Leistungsfähigkeit, sondern auch das psychische Wohlbefinden und die berufliche Zufriedenheit beeinträchtigt. Die Entstehung von Stimmerkrankungen wird durch berufsbedingte Stressoren, Stimmüberlastung und eine unzureichende Gesangstechnik begünstigt. Eine personalisierte und ausdifferenzierte Betreuung und Unterstützung von professionellen Sänger*innen, sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene, wirkt sich positiv auf das Erleben und den Behandlungsprozess der Dysodie aus. Eine umfassende Aufklärung bezüglich des Krankheitsbildes Dysodie und seiner Risikofaktoren ist förderlich zur Prävention und Enttabuisierung von Singstimmstörungen und erhöht die Sensibilität innerhalb des Opernchores für das Thema. Sie sollten in Schulungen in der Oper von dysodieerfahrenen Gesangspädagog*innen oder Stimmtherapeut*innen durchgeführt werden.
Fazit
Opernchorsänger*innen sehen sich mit besonderen stimmlichen Herausforderungen konfrontiert. Einzelnen Chorist*innen wird tendenziell weniger Aufmerksamkeit zuteil als Solist*innen. Weitere Forschung zu dem Thema sowie die gezielte Ausbildung von Dysodie-Therapeut*innen scheinen unerlässlich zu sein, um eine optimale Beratung und Behandlung von Sänger*innen mit Dysodie zu gewährleisten.
References
[1] Childs LF, Rao A, Mau T. Profile of Injured Singers: Expectations and Insights. Laryngoscope. 2022 Nov;132(11):2180-6. DOI: 10.1002/lary.30015[2] Sharma V, Nayak S, Devadas U. A survey of vocal health in church choir singers. Eur Arch Otorhinolaryngol. 2021 Aug;278(8):2907-17. DOI: 10.1007/s00405-021-06770-0
[3] Schlömicher-Thier J, Weikert M. Der Stimm- und Opernarzt. In: Bernatzky G, Kreutz G, Hrsg. Musik und Medizin. Chancen für Therapie, Prävention und Bildung. Wien: Springer Verlag; 2015. S. 125-136.
[4] Mayring P. Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 13., überarbeitete Auflage. Weinheim, Basel: Beltz; 2022.