41. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
41. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Hohe alters- und einrichtungsbezogene Hörstörungsprävalenzen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung erfordern regelmäßige Hörtestungen in ihrem Lebensumfeld
2Klinik für Hals‑, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie der Ruhr-Universität Bochum, Johannes Wesling Klinikum Minden, Minden, Deutschland
3Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
4Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Universitätsklinikum Essen, Essen, Deutschland
5Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement (EsFoMed) GmbH, Essen, Deutschland
6Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Köln, Köln, Deutschland
7Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
8Institut für Sonderpädagogik, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland
9Praxis für HNO-Heilkunde, Pädaudiologie und Phoniatrie, Düsseldorf-Meerbusch, Deutschland
10Abteiltung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Helios HSK, Wiesbaden, Deutschland
Abstract
Hintergrund: Menschen mit intellektuelle Beeinträchtigung (iB) haben ein hohes Risiko für Hörstörungen. Ziele des vom G-BA-Innovationsfonds geförderten Projekts „HörGeist“ (Förderkennzeichen 01NVF18038) waren die Untersuchung von Machbarkeit und Nutzen eines aufsuchenden Hörscreening-, diagnostik-und Interventions-Programms für Menschen mit iB in ihrer Lebensumgebung und die Prävalenz-Bestimmung von Hörstörungen.
Material und Methoden: In der aufgesuchten Kohorte wurden Hörstörungen fast in der Hälfte der Fälle diagnostiziert, gut zwei Drittel davon waren zuvor unbekannt, der Großteil davon inadäquat versorgt. In etwa einem Drittel der Fälle wurde das Hörvermögen der Teilnehmenden durch ihre Bezugspersonen und sie selbst überschätzt. Screening und Diagnostik ergaben in nahezu allen Fällen ein klares Ergebnis – bei einer Screening-Spezifität und -Sensitivität, die dem Neugeborenen-Hörscreening vergleichbar sind. Klinikbesuche in der eingeladenen Kohorte erfolgten in nur in Ausnahmefällen. Die Prävalenz von Hörstörungen war abhängig von Lebensalter und Art der Einrichtung, wobei nahezu alle Menschen in Erwachsenen-Wohngruppen eine Hörstörung hatten.
Ergebnisse: In der aufgesuchten Kohorte wurden Hörstörungen fast in der Hälfte der Fälle diagnostiziert, gut zwei Drittel davon waren zuvor unbekannt, der Großteil davon inadäquat versorgt. In etwa einem Drittel der Fälle wurde das Hörvermögen der Teilnehmenden durch ihre Bezugspersonen und sie selbst überschätzt. Screening und Diagnostik ergaben in nahezu allen Fällen ein klares Ergebnis – bei einer Screening-Spezifität und -Sensitivität, die dem Neugeborenen-Hörscreening vergleichbar sind. Klinikbesuche in der eingeladenen Kohorte erfolgten in nur in Ausnahmefällen. Die Prävalenz von Hörstörungen war abhängig von Lebensalter und Art der Einrichtung, wobei nahezu alle Menschen in Erwachsenen-Wohngruppen eine Hörstörung hatten.
Schlussfolgerungen: Ein flächendeckendes, aufsuchendes Programm von Hörscreenings, -diagnostik, und -interventionen bei Menschen mit iB ist machbar, valide und eine essenzielle Voraussetzung zur Verbesserung ihrer sozialen Teilhabe und Lebensqualität.
Text
Hintergrund
Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung (iB) haben ein 5- bis 10-mal höheres Risiko für Hörstörungen als in der altersentsprechenden Allgemeinbevölkerung [1]. Die Ursachen von Hörstörungen bei Menschen mit iB sind vielfältig. Neben vermehrten Schallleitungsschwerhörigkeiten unterschiedlicher Ursachen (z.B. durch eine höhere Prävalenz für Paukenergüsse, Cerumen obturans oder Fehlbildungen) sind auch zahlreiche genetische Syndrome, die mit einer iB assoziiert sind, mit Hörstörungen im Kindesalter verbunden; andere wiederum begünstigen die frühzeitige Entwicklung sensorineuraler Hörverluste, beispielsweise in Form einer vorzeitigen Altersschwerhörigkeit [2], [3]. Frühgeborene mit sehr niedrigem Gestationsalter weisen nicht nur eine hohe Rate an iB auf, sondern auch eine erhöhte Prävalenz dauerhafter Hörstörungen (1,2–3 %) [4], [5]. Beide Störungen treten häufig gemeinsam auf. Cans et al. [6] ermittelten bei siebenjährigen Kindern mit schweren neurosensorischen Einschränkungen eine Prävalenz von etwa 10% für Hörstörungen. Ziel des vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geförderten Projekts „HörGeist“ (Förderkennzeichen 01NVF18038) war es, Machbarkeit und Nutzen eines aufsuchenden Programms zur Hörscreening, -diagnostik und -intervention im Lebensumfeld von Menschen mit iB zu untersuchen sowie die Prävalenz von Hörstörungen systematisch zu erfassen.
Material und Methodik
Im Rahmen einer kontrollierten, altersstratifizierten Kohortenstudie erhielten 1.053 Menschen mit iB (Alter 1–90 Jahre) ein Ohr- und Hörscreening in ihrem gewohnten Lebensumfeld (Kindergärten, Schulen, Arbeits- und Wohneinrichtungen). Bei auffälligen Befunden erfolgte die weiterführende Diagnostik direkt vor Ort. In Abhängigkeit vom Ergebnis wurde eine Therapie eingeleitet, empfohlen oder eine bestehende Maßnahme überprüft und ggf. optimiert. Nach einem Jahr fand ein erneutes Screening einschl. ggf. Diagnostik zur Verlaufskontrolle statt. Eine Kontrollgruppe (n=141) wurde zum identischen Verfahren in spezialisierte Einrichtungen für Phoniatrie und Pädaudiologie eingeladen. Zusätzlich wurden Informationen zum Hörstatus, zur bestehenden Versorgung sowie zur hörbezogenen Lebensqualität erhoben. Sekundärdaten gesetzlicher Krankenkassen dienen der gesundheitsökonomischen Evaluation und Modellierung [7].
Ergebnisse
In der aufgesuchten Kohorte wurden Hörstörungen fast in der Hälfte der Fälle diagnostiziert, gut zwei Drittel davon waren zuvor unbekannt, der Großteil davon inadäquat versorgt. In etwa ⅓ der Fälle wurde das Hörvermögen der Teilnehmenden durch ihre Bezugspersonen und sie selbst überschätzt, was unterstreicht, dass subjektive Angabe eine tatsächliche Hördiagnostik nicht ersetzen kann. Screening und Diagnostik ergaben in nahezu allen Fällen ein klares Ergebnis – bei einer Screening-Spezifität und -Sensitivität, die dem Neugeborenen-Hörscreening vergleichbar sind. Das Angebot einer Untersuchung des Hörvermögens im Rahmen eines Klinikbesuches in der eingeladenen Kohorte erfolgte praktisch nicht, was die Notwendigkeit eines Aufsuchenden Screenings unterstreicht, um diese vulnerable Gruppe zu erreichen. Die Prävalenz von Hörstörungen war abhängig von Lebensalter und Art der Einrichtung, wobei nahezu alle Menschen in Erwachsenen-Wohngruppen eine Hörstörung hatten.
Schlussfolgerung
Ein flächendeckendes, aufsuchendes Programm von Hörscreenings, -diagnostik und -interventionen bei Menschen mit iB ist machbar, valide und eine essenzielle Voraussetzung zur Verbesserung ihrer sozialen Teilhabe und Lebensqualität. Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere unerkannte und unbehandelte Hörstörungen in dieser Gruppe weit verbreitet sind und ohne systematische Erfassung häufig übersehen werden – mit negativen Auswirkungen auf Kommunikation, Bildung, Beschäftigung und psychosoziale Entwicklung. Die hohe Akzeptanz des aufsuchenden Angebots, gepaart mit der geringen Inanspruchnahme klassischer klinischer Strukturen, belegt die Relevanz niedrigschwelliger Versorgungsformen. Langfristig ist ein solches Modell auch gesundheitsökonomisch vielversprechend, da Folgeerkrankungen und aufwendigere Hilfemaßnahmen reduziert werden könnten.
Gesundheitspolitisch ist es dringend geboten, diese vulnerable Gruppe gezielt in die Versorgungsstrukturen zu integrieren und aufsuchende Hörversorgung als festen Bestandteil der Regelversorgung zu verankern. Angesichts der hohen Dunkelziffer nicht erkannter Hörstörungen würde Deutschland mit der flächendeckenden Implementierung eines solchen Programms einen wichtigen und konkreten Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der hör-gesundheitlichen Chancengleichheit und Teilhabe für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung leisten – und international eine Vorreiterrolle einnehmen.
References
[1] Evenhuis HM, Meuwese-Jongejeugd A, Van Zanten G, Verschuure J. Hearing impairment in people with intellectual disabilities: an undeveloped area. ENT News. 2003;12:41-4.[2] Evenhuis HM. Medical aspects of ageing in a population with intellectual disability: II. Hearing impairment. J Intellect Disabil Res. 1995 Feb;39:27-33.
[3] Hildmann A, Hildmann H, Kessler A. Hörstörungen beim Down-Syndrom [Hearing disorders in children with Down’s syndrome]. Laryngorhinootologie. 2002 Jan;81(1):3-7. DOI: 10.1055/s-2002-20120
[4] Lorenz JM, Wooliever DE, Jetton JR, Paneth N. A quantitative review of mortality and developmental disability in extremely premature newborns. Arch Pediatr Adolesc Med 1998 May;152:425-35.
[5] Robertson C, Sauve RS, Christianson HE. Province-based study of neurologic disability among survivors weighing 500 through 1249 grams at birth. Pediatrics 1994 Apr;93:636-40.
[6] Cans C, Guillem P, Fauconnier J, Rambaud R, Jouk PS. Disabilities and trends over time in a French county, 1980-91. Arch Dis Child. 2003 Feb;88(2):114-7.
[7] Schwarze K, Mathmann P, Schäfer K, Brannath W, Höhne PH, Altin S, Prein L, Naghipour A, Zielonkowski SM, Wasmuth S, Kanaan O, Am Zehnhoff-Dinnesen A, Schwalen AS, Schotenröhr A, Scharpenberg M, Schlierenkamp S, Stuhrmann N, Lang-Roth R, Demir M, Diekmann S, Neumann A, Gietmann C, Neumann K. Effectiveness and costs of a low-threshold hearing screening programme (HörGeist) for individuals with intellectual disabilities: protocol for a screening study. BMJ Open. 2023 May 18;13(5):e070259. DOI: 10.1136/bmjopen-2022-070259