Logo

70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)
07.-11.09.2025
Jena


Meeting Abstract

Außerklinischer Intensivpflege: Status quo der Potenztialerhebung zur Beatmungsentwöhnung und Dekanülierungsstrategie

Thomas Gaertner 1
Moritz Rau 1
Ulfert Grimm 1
Annette Hoffmann-Götz 1
Andreas Mappes 1
Patrick Schunda 1
1Medizinischer Dienst Hessen, Oberursel, Germany

Text

Einleitung: In Deutschland werden je nach Schätzung zwischen 15.000 bis 25.000 Menschen in Form der außerklinischen Intensivpflege (AKI) versorgt. Davon werden rund 40 Prozent der Patienten/-innen invasiv und rund 22 Prozent teilweise oder durchgängig nichtinvasiv beatmet [1]. Die im Einzelfall, vor allem auch im Hinblick auf die Lebensqualität, indizierte, dann oft prologierte Beatmungsentwöhnung (Weaning) stellt, nicht zuletzt aufgrund häufiger Komorbiditäten, eine komplexe Intervention dar [2], [3], [4], [5], [6]. Deswegen ist eine leitliniengerechte Indikationsstellung mit fachgerechter Erhebung des Potenzials zur Beatmungsentwöhnung und ggf. Dekanülierung unabdingbar. Dementsprechend fordert dies modifiziert auch die AKI-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für diese Patienten/-innen: sowohl die Dokumentation aller Möglichkeiten der Therapieoptimierung und gegebenenfalls eine Anpassung der Entwöhnungs- bzw. Dekanülierungsstrategie. Die Potenzialerhebung selbst hat durch besonders qualifizierte, durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) beauftragte Vertragsfachärzte/-innen zu erfolgen. Die sozialmedizinische Indikation zur AKI, deren Qualität sowie die richtlinienkonforme Verordnung sind 1x jährlich durch persönliche Inaugenscheinnahme eines Medizinischen Dienstes (MD) auf der Grundlage einer vom Bundesministerium für Gesundheit genehmigten Begutachtungsanleitung zu überprüfen. Analysiert werden sollte, wie sich dieses Patientenkollektiv zum Zeitpunkt der sozialmedizinischen Begutachtung hinsichtlich eines Weaning- und Dekanülierungspotenzials verhielt.

Methodik: Sekundärdatenanalyse der standardisiert (und bundesweit einheitlich qualitätsgesichert) im Rahmen einer persönlichen Inaugenscheinnahme vor Ort erstellten Gutachten des MD Hessen anlässlich der vertragsärztlich verordneten AKI im Zeitraum von Oktober 2023 bis März 2025.

Ergebnisse: Von den 1615 AKI-Gutachten mit Hausbesuch vor Ort wurden 1314 bei tracheotomierten und/oder beatmeten Versicherten erstellt. Bei den unter 18-Jährigen war formal bei gut 50%, hingegen bei den Erwachsenen in über 90% eine Potentialerhebung zu fordern. Diese lag allerdings in beiden Gruppen lediglich in etwa 50% der Fälle vor. An einer Stichprobe von 90 Gutachten wurde zudem nachgewiesen, dass gutachterlicherseits die dokumentierte Potenzialerhebung in nur 44% als plausibel eingeschätzt werden konnte.

Tabelle 1 [Tab. 1]

Tabelle 1

Diskussion: Eine Studie der deutschen Fachpflege wies in rund 16 Prozent der Fälle ein mögliches Potenzial nach, zuletzt blieb es bei einer tatsächlichen Entwöhnungs- bzw. Dekanülierungsquote von etwa 5 Prozent [7]. Aufgrund einer temporären G-BA-Übergangsregelung muss die für AKI erforderliche Potenzialerhebung vorerst bis spätestens zum 30.06.2025 vorliegen. Die jetzt für Hessen (Flächenland mit zwei wirtschaftsstarken Metropolregionen, bundesweit mehr als 7 Prozent aller GKV-Versicherten) vorliegenden Daten können – bezogen auf die epidemiologische Situation in Deutschland –als repräsentativ betrachtet werden. Bei fast der Hälfte der tracheotomierten und/oder beatmeten Versicherten lag zum Begutachtungszeitpunkt keine formal ausreichende, aussagekräftige Potenzialanalyse vor, allerdings mit abnehmender Tendenz. Bei Beteiligung aller in Hessen durch die KV autorisierten AKI-Verordner (ca. 200) und AKI-Potenzialerheber (derzeit 35) sollte eine gesetzeskonforme Potenzialerhebungsquote nach Ablauf der Übergangsregelung mit zudem neu definierten Rahmenbedingungen flächendeckend realisierbar sein [8].

Schlussfolgerung: Momentan ist der Anteil der im Rahmen der AKI vorzulegenden Potenzialerhebungen noch recht hoch. Mit dem Ziel der Ausschöpfung vorhandener Weaning- und auch Dekanülierungsmöglichkeiten sollte eine Vernetzung aller an der AKI-Versorgung Beteiligten gefördert werden. Dazu beitragen könnten die zu erwartende neue gesetzliche Regelung sowie zwei angemeldete AKI-Leitlinienprojekte, einerseits bezogen auf Patienten mit respiratorischen Erkrankungen sowie andererseits auf solche mit Erkrankungen des Nervensystems oder der Muskulatur. Weitere, longitudinale Datenerhebungen, optimalerweise in Form eines Registers zur Überprüfung der Effektivität von Versorgungsstrukturen, sind sicherlich erforderlich.

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.


Literatur

[1] Isfort M, Hüsken JM, Sachs S, Tucman D. Pflege-Thermometer 2022. Situation und Versorgung von Menschen in der häuslichen Intensivversorgung in Deutschland. Köln: Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V.; 2022 [cited 2025 Jun 17]. Available from: http://www.dip.de
[2] Schönhofer B, et al. Prolongiertes Weaning. S2k-Leitlinie herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V. Registernummer 020-015. AWMF; 2019 [cited 2025 Jun 17]. Available from: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/020-015
[3] Shah NM, Hart N Kaltsakas G. Prolonged weaning from mechanical ventilation: who, what, when and how? Breathe. 2024;20:240122240122. DOI: 10.1183/20734735.0122-2024
[4] Rehorn W, Herkenrath S, Treml M, Hagmeyer L, Bayarassou AH, Randerath W. Decannulation/Weaning Potential and Success in Home Intensive Care. Respiration. 2022 Dec 15;102(2):110–9.
[5] Fradkin M, Elyashiv M, Camel A, Nirit Agay, Brik M, Singer P, et al. A historical cohort study on predictors for successful weaning from prolonged mechanical ventilation and up to 3-year survival follow-up in a rehabilitation center. Respiratory Medicine. 2024 Apr 18;227:107636–6. DOI: 10.1016/j.rmed.2024.107636
[6] Ghiani A, Tsitouras K, Paderewska J, Milger K, Walcher S, Weiffenbach M, et al. Incidence, causes, and predictors of unsuccessful decannulation following prolonged weaning. Therapeutic Advances in Chronic Disease. 2022;13:20406223221109655. DOI: 10.1177/20406223221109655
[7] Deutsche Fachpflege. QB 2024. Unternehmens- und Qualitätsbericht. 2024 [cited 2025 Jun 17]. Available from: https://deutschefachpflege.de/qualitaetsbericht_2024.html
[8] Gaertner T, Mappes A, Rau M, Grimm U, Hoffmann-Götz A, Schunda P. Außerklinische Intensivpflege: Versorgungsrelevante Aspekte. Hessisches Ärzteblatt. 2025;4:226-228.