70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
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Verordnungsumfang und Wirkstoffe in der Behandlung seltener Erkrankungen für gesetzlich versicherte Patienten in Schleswig-Holstein von 2015 bis 2023
2Universität zu Lübeck, Lübeck, Germany
3Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein, Bad Segeberg, Germany
Text
Einleitung: „Orphan Drugs“ bezeichnet Arzneimittel zur Behandlung von seltenen Krankheiten, deren Entwicklungen unter Marktbedingungen schwierig sind. „Orphan Drug“ werden zur Behandlung von Patienten entwickelt, die an einer sehr schweren Krankheit leiden, für die es noch keine oder zumindest keine befriedigende Therapie gibt. Von diesen Krankheiten ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung betroffen, meist seit der Geburt oder der früher Kindheit. Nach Definition sind weniger als 1/2000 in Europa betroffen, das sind skaliert auf Schleswig-Holstein 1.500 Patienten. Das Ziel besteht darin, den Status quo und Entwicklungstendenzen darzustellen und zu ermitteln, ob der Orphan-Status demnächst ausläuft.
Methoden: Es wurden die Verordnungen der Versicherten aller Gesetzlichen Krankenkassen mit einer Arzneimittelverschreibung durch einen Vertragsarzt aus Schleswig-Holstein von 2014 (1,494 Mio. Patienten) bis 2023 (1,581 Mio. Patienten) untersucht. Die Datenbasis enthält die Pharmazentralnummer (PZN) sowie über eine Datenbankanbindung den Wirkstoff nach der ATC-Klassifikation (anatomisch-therapeutisch-chemisch) mit einer Spezifikation nach deutschem bzw. europäischen Zulassungsrecht. Enthalten sind auch Verordnungszahlen, Kosten und anonymisierte Patientenkennungen. Die Identifizierung der „Orphan Drugs“ erfolgte auf PZN-Basis. Diagnosedaten lagen nicht vor.
Ergebnisse: Die Anzahl der betroffenen Patienten stieg signifikant von 12 im ersten Verordnungsjahr 2015 auf 1.319 im Jahr 2023. Parallel dazu stiegen die Kosten von 155 Tausend auf 45,6 Millionen Euro, die Anzahl der verordneten Wirkstoffe von 2 auf 56 und die mittleren Kosten pro Patienten von 12,9 auf 34,6 Tausend Euro. Im Jahr 2023 wurden für die Wirkstoffe Vutrisiran (ATC: N07XX18), Eliglustat (ATC: A16AX10) und Chenodesoxycholsaure (ATC: A05AA01) Kosten von mehr als 300.000 Euro aufgewendet. Die höchsten Kosten im Jahr 2023 nach Kosten pro Patienten für Wirkstoffe entfallen mit 4,6 Millionen Euro auf Lanadelumab (ATC: B06AC05) mit 24 Patienten und danach mit 3,1 Millionen Euro auf Burosomab (ATC: M05BX05) mit 15 Patienten. Die höchsten Kosten, die insgesamt mit 9,8 Millionen Euro angefallen sind, resultieren aus der Behandlung von 220 Patienten mit Daratumumab (ATC: L01FC01). Danach folgt mit 4,8 Millionen Euro Tafamidis (ATC: N07XX08) mit 44 Patienten.
Schlussfolgerung: Die Arzneimittel für seltene Erkrankungen erhalten keine früher Nutzenbewertung durch den Gemeinsamer Bundesausschuss (GBA), solange die Anzahl der Betroffenen die festgelegte Schwelle nicht überschreitet. Es ist zu erwarten, dass sich dies trotz des signifikanten Wachstums noch für einen längeren Zeitraum nicht ändern wird. Andererseits ist auch die allgemeine Kostenentwicklung im betrachteten Zeitraum von 1,2 Milliarden Euro im Jahr 2015 auf 2,3 Milliarden Euro im Jahr 2023 gestiegen, was in erheblichem Umfang auf die hochpreisigen Arzneimittel nach Nutzenbewertung zurückzuführen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine spätere Nutzenbewertung der „Orphan Drugs“ zu einer Kostendämpfung führen wird, ist eher als gering einzustufen. Als nächste Schritte könnten Bezüge zu Diagnosen, Komorbiditäten und Polypharmazie untersucht werden.
Da die Finanzierung sehr hochpreisiger Arzneimittel ein Effekt regulatorischer Maßnahmen ist, sollte diskutiert werden, ob und in welchem Umfang dies durch die Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgen soll. Mit steigendem Kosten sollten „Orphan Drugs“ in die Vertragsverhandlungen zwischen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung sowie in die Beratungsunterlagen für die Ärzte durch die Kassenärztliche Vereinigung und die Krankenkassen eingehen.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.
Literatur
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