70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
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Interviews zur nutzerorientierten Entwicklung pro-adaptiver kognitiver Assistenzsysteme: Bedürfnisse von Alzheimer-Patienten
Text
Einleitung: Im Projekt Zentrum Assistive Technologien Rhein-Ruhr werden pro-adaptive kognitive Assistenzsysteme (Pro-CAT = pro-adaptive cognitive assistive technologies) erforscht und entwickelt. Diese Systeme sollen mithilfe künstlicher Intelligenz ihre Unterstützung an die aktuellen Bedürfnisse des Nutzers anpassen, indem sie den individuellen Unterstützungsbedarf, beispielsweise aufgrund degenerativer Erkrankungen, vorhersagen. Während bereits Assistenzsysteme für ältere Menschen existieren [1], sollen Pro-CAT in einem Szenario mit stationär versorgten Menschen mit Alzheimer-Demenz entwickelt werden.
Die frühzeitige Einbindung von Demenz-Patienten ist wichtig, aber gegenwärtig noch unzureichend umgesetzt [2]. Daher fokussieren wir auf eine partizipative Anforderungsanalyse mit Alzheimer-Patienten, um sicherzustellen, dass die entwickelten Pro-CAT technisch innovativ sowie alltagsrelevant sind und den tatsächlichen Bedürfnissen der Nutzer entsprechen.
Methoden: Zur systematischen Erfassung des Unterstützungsbedarfes von Menschen mit Alzheimer-Demenz wurden zunächst relevante (Lebens-) Bereiche identifiziert. Hierzu erfolgte eine Analyse neuropsychiatrischer Symptome gemäß der Diagnosekriterien nach ICD [3] ergänzt durch die neuropsychiatrische Struktur der Erkrankung [4] und Richtlinien zur Vergabe der Pflegegrade in Deutschland [5]. Basierend auf diesen Quellen wurden Cluster potenzieller Unterstützungsbereiche gebildet, indem
- einzelne Symptome und Unterstützungsbedarfe gesammelt,
- nach Messbarkeit und Adressierbarkeit im Rahmen kognitiver Assistenzsysteme gefiltert und
- diese zu heuristischen Clustern zusammengefasst wurden.
Auf Grundlage dieser Cluster wurde ein strukturiertes Interview entwickelt. Die Fragen wurden offen formuliert, um individuelle Bedarfe und Herausforderungen erfassen zu können. Die Interviews (durchschnittlich ca. 24 min) wurden mit sechs Bewohnern (durchschnittliches Alter = 81.5 Jahre, fünf weiblich, leichte bis moderate dementielle Symptome) eines Seniorenwohnheims durchgeführt, um erste qualitative Daten zur praktischen Relevanz der identifizierten Unterstützungsbereiche zu gewinnen. Die Interviews wurden transkribiert, die Antworten den Clustern zugeordnet und Mehrfachnennungen dokumentiert.
Ergebnisse: Die kognitive Leistungsfähigkeit und das Gedächtnis sollen durch einfach zu bedienende kognitive Trainings erhalten bleiben. Das Pro-CAT soll den Nutzer regelmäßig motivieren und, durch Integration bekannter Spiele, Gamification nutzen. Die Biografie des Nutzers wird zur gezielten Gedächtnisförderung genutzt.
Soziale Interaktion wird durch Telefonate und Chats gefördert, wobei das Pro-CAT intelligente Kontaktvorschläge macht. Eine Smartwatch erinnert per Vibration oder Ton an Flüssigkeitsaufnahme und regt zu Bewegung und Partizipation an. Ein Pro-CAT passt sich der Tagesform an, empfiehlt Pausen und agiert zurückhaltend, wenn keine Erinnerungen erwünscht sind.
Eine interaktive Terminübersicht weist auf anstehende und vergessene Aufgaben hin. Schlafprobleme werden durch beruhigende Geschichten oder Musik adressiert. Bei Ängsten oder Trauer setzt das System auf Gespräche, positive Aspekte und Ablenkung. Unruhe und Aggressivität werden durch Feedback zur Gefühlslage reguliert Ein Notfallknopf ermöglicht jederzeit das Rufen von medizinischem Personal.
Diskussion: Die Zielgruppe hat aufgrund ihres Alters teils Erfahrung mit Technologie und ggf. aufgrund der Alzheimer-Symptomatik Probleme, das Ziel der Fragen zu abstrahieren. Daher ist es schwer, sicherzustellen, ausreichend unterstützenden Kontext zu geben und gleichzeitig nicht zu suggestiv zu fragen. Beispielsweise wurde mehrfach im Verlauf der Gespräche eine persönliche Erfahrung mit einem Notfallknopf genannt, aber nie zu Beginn des Interviews auf die Frage, welche Vorerfahrung man mit technischen Hilfsmitteln habe.
Aspekte wie Gamification, Erinnerungen, Wearables und Notfallknöpfe sind etablierter [1], während die emotionale Adressierung und Pro-Adaptivität teilweise neuartig sind.
Schlussfolgerung: Ein Pro-CAT sollte individuelle Erinnerungen, Bewegungsvorschläge und Unterstützung bei emotionalen Herausforderungen bieten, während es sich an die Nutzerbedürfnisse anpasst.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.
Literatur
[1] Stavropoulos TG, Papastergiou A, Mpaltadoros L, Nikolopoulos S, Kompatsiaris I. IoT Wearable Sensors and Devices in Elderly Care: A Literature Review. Sensors (Basel, Switzerland). 2020;20(10):2826.[2] Holthe T, Halvorsrud L, Karterud D, Hoel KA, Lund A. Usability and acceptability of technology for community-dwelling older adults with mild cognitive impairment and dementia: a systematic literature review. CIA. 2018 May;13:863–86.
[3] World Health Organization. ICD-10 Version:2019. Chapter V Mental and behavioural disorders (F00-F99). [cited 2025 Feb 10]. Available from: https://icd.who.int/browse10/2019/en#/F00-F09
[4] Hiu SKW, Bigirumurame T, Kunonga P, Bryant A, Pillai M. Neuropsychiatric Inventory domains cluster into neuropsychiatric syndromes in Alzheimer’s disease: A systematic review and meta-analysis. Brain and behavior. 2022;12(9):e2734.
[5] Medizinischer Dienst Bund. Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches. 2024.



