70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
Sepsisdetektion auf der Basis von interoperablen elektronischen Fallakten
2Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany
3Institut für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany
Text
Einleitung: Sepsis stellt aufgrund ihrer hohen Sterblichkeit sowie langfristigen Morbidität eine große Herausforderung für die Gesundheitsversorgung dar [1]. Valide Daten zur Sepsisinzidenz und -mortalität sind essenziell für epidemiologische Surveillance und Qualitätssicherung der Krankenhausversorgung [2], [3]. Daten zur Sepsisinzidenz beruhen in Deutschland bisher auf ICD- und OPS-Kodierungen in Abrechnungsdaten. Für diese konnte eine Sensitivität von 26,8–38% im Vergleich zur klinischen Sepsisdiagnose basierend auf Patientenakten gezeigt werden, was zu einer erheblichen Unterschätzung der Krankheitslast führt [4].
Eine mögliche Lösung stellt die Nutzung klinischer Daten aus elektronischen Fallakten dar. Rhee et al. konnten auf US-Daten zeigen, dass ein Fallakten-basierter Detektionsalgorithmus eine erheblich präzisere Identifikation von Sepsisfällen ermöglicht als die ICD-Kodierung [5]. Die Adaption und Anwendung eines solchen Algorithmus auf deutsche Fallakten eines Krankenhaussamples unterschiedlicher Versorgungsstufen wurde bisher noch nicht durchgeführt.
Methoden: Die Datengrundlage der retrospektiven Kohortenstudie waren interoperable, strukturierte und unstrukturierte Fallakten der stationären Versorgung von Krankenhäusern des Machine Learning (ML)-Netzwerks der Firma Tiplu. Die Analysen erfolgten in einem föderierten Verfahren, wobei die Daten die jeweiligen Krankenhaus-Server zu keinem Zeitpunkt verließen und die Ergebnisse aggregiert ausgegeben wurden.
Für die Studie wurden Daten aus den Jahren 2018 bis 2021 inkludiert. Krankenhäuser wurden für die Trendanalyse eingeschlossen, wenn bestimmte Kriterien hinsichtlich Datenqualität und -quantität in jedem der vier Jahre erfüllt wurden.
Der Fallakten-Algorithmus ist an den Algorithmus von Rhee et al. angelehnt [5] ein Sepsisfall muss jeweils ein Kriterium für eine schwere Infektion und eines Organversagens innerhalb eines 48-Stunden-Zeitfensters erfüllen. Es erfolgt der Vergleich mit einem Algorithmus der nur Abrechnungsdaten nutzt. Für die beiden über die Definitionen identifizierten Sepsiskohorten werden Krankenhausinzidenz, Letalität und stationäre Verweildauer analysiert.
Ergebnisse: Für die Trendanalysen wurden 1.409.769 Fälle aus 17 Krankenhäusern aus den Jahren 2018 bis 2021 eingeschlossen. Die stationäre Sepsisinzidenz in den Häusern der Trendanalyse beträgt 3,14 Sepsisfälle pro 100 Krankenhausfälle für den Fallakten-Algorithmus und 1,99 Sepsisfälle pro 100 Krankenhausfälle für den Abrechnungsdaten-Algorithmus. Bei 0,96 Fällen pro 100 Krankenhausfällen lag eine Sepsis vor, die über beide Algorithmen identifiziert wurde. Es fand sich sowohl auf Basis des Fallakten-Algorithmus als auch über den Abrechnungsdaten-Algorithmus eine Zunahme der Inzidenz zwischen 2018–2021.
Die Letalität liegt in der über Abrechnungsdaten identifizierten Sepsiskohorte mit 29,9% höher als bei der über die Fallakten identifizierten Kohorte mit 22,9%. Sie nahm bei den auf Basis der Abrechnungsdaten identifizierten Fälle insbesondere in 2020 zu, sank aber 2021 wieder ab. Der Median der stationären Verweildauer beträgt in der Abrechnungsdaten-Kohorte 15 Tage (IQR 8–29), bei der Fallakten-Kohorte ebenfalls 15 Tage (IQR: 9–27).
Diskussion: Die Anwendung eines Fallakten-basierten Identifikationsalgorithmus ist unter Nutzung einer semantischen Analyse der schriftlichen Dokumente, sowie von Labor-, Medikationsdaten und Vitalparametern umsetzbar. Sie lieferte mit Vorstudien vergleichbare Ergebnisse hinsichtlich Sepsis-Krankenhausinzidenz und -sterblichkeit [5]. Neben den eingangs beschriebenen möglichen Anwendungsfällen wurde eine Variante des Fallakten-Algorithmus in Kombination mit Abrechnungsdaten bereits für die Entwicklung eines klinischen Entscheidungsunterstützungssystems zur Detektion und Prädiktion von Sepsis Verdachtsfällen anhand interoperabler klinischer Routinedaten genutzt. Ergebnisse der Validierung der beiden Algorithmen auf einem manuell gelabelten Goldstandarddatensatz werden auf der Konferenz präsentiert.
Schlussfolgerung: Erstmals in Deutschland konnte ein Fallakten-basierter Detektionsalgorithmus für Sepsis mit vielversprechenden Ergebnissen eingesetzt werden.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.
References
[1] Prescott HC, Angus DC. Enhancing recovery from sepsis: a review. JAMA. 2018;319:62–75.[2] Fleischmann-Struzek C, Mikolajetz A, Schwarzkopf D, et al. Challenges in assessing the burden of sepsis and understanding the inequalities of sepsis outcomes between national health systems: secular trends in sepsis and infection incidence and mortality in Germany. Intensive Care Med. 2018;44:1826–35.
[3] Schwarzkopf D, Rüddel H, Brinkmann A, et al. The German Quality Network Sepsis: Evaluation of a Quality Collaborative on Decreasing Sepsis-Related Mortality in a Controlled Interrupted Time Series Analysis. Front Med. 2022;9:882340.
[4] Schwarzkopf D, Rüddel H, Fleischmann-Struzek C, et al. Understanding the biases to sepsis surveillance and quality assurance caused by inaccurate coding in administrative health data. Infection. 2024;52:413–27.
[5] Rhee C, Dantes R, Epstein L, et al. Incidence and trends of sepsis in US hospitals using clinical vs claims data, 2009-2014. JAMA. 2017;318:1241-9.



