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70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)
07.-11.09.2025
Jena


Meeting Abstract

Inanspruchnahme von digitalen Gesundheitsanwendungen für psychische Erkrankungen – vorläufige Ergebnisse einer prospektiven, multizentrischen Kohortenstudie

Pascal Kemmerer 1
Esther Stalujanis 1,2
Deborah Engesser 1
Lena Dotzauer 1
Sandra Salm 3
Sandy Scheibe 4
Karola Mergenthal 3
Karen Voigt 4
Susanne Singer 1,5
1Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik (IMBEI), Abteilung Epidemiologie und Versorgungsforschung, Mainz, Germany
2Universitätsspital Zürich, Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik, Zürich, Switzerland
3Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Allgemeinmedizin, Frankfurt am Main, Germany
4Medizinische Fakultät und Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Bereich Allgemeinmedizin, Dresden, Germany
5Universitätsmedizin Rostock, Comprehensive Cancer Center Mecklenburg-Vorpommern, Rostock, Germany

Text

Einleitung: Patient:innen warten teilweise mehrere Monate auf eine ambulante Psychotherapie [1]. In digitalen Gesundheitsanwendungen für psychische Erkrankungen (PsyDiGA) wird das Potential gesehen, diese Wartezeit zu überbrücken [2]. PsyDiGA können seit 2020 auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen verordnet werden [3]. Unbekannt ist, inwiefern PsyDiGA von Patient:innen tatsächlich in Anspruch genommen werden.

Methoden: In einer prospektiven, multizentrischen Kohortenstudie haben wir Patient:innen zu zwei Messzeitpunkten befragt. Es nahmen Patient:innen (mind. 18 Jahre alt) mit einer psychischen Erkrankung teil, für deren Diagnose mindestens eine PsyDiGA verfügbar ist. Die Patient:innen wurden über niedergelassene Psychotherapeut:innen, Hausärzt:innen und Psychiater:innen für die Studie gewonnen. Die Baselinebefragung (t1) erfolgte vor einer potentiellen PsyDiGA-Inanspruchnahme, t2 sechs Monate nach t1. Erfasst wurden die Inanspruchnahme von PsyDiGA, ambulanter Psychotherapie und Psychopharmaka sowie sozioökonomische Merkmale mittels Fragebogen. Patient:innen, die eine PsyDiGA zwischen t1 und t2 mindestens einmal nutzten, definierten wir als Nutzer:innen. Mittels logistischen Regressionsmodellen haben wir Odds Ratios (OR) und 95%-Konfidenzintervalle (KI) für Assoziationen zwischen der PsyDiGA-Inanspruchnahme (Nutzer:innen vs. Nicht-Nutzer:innen) und sozioökonomischen Merkmalen geschätzt, adjustiert für Alter und Geschlecht.

Ergebnisse: Derzeit liegen uns t2-Fragebögen von 311 Patient:innen mit psychischen Erkrankungen vor, von denen 15% (n = 46) PsyDiGA-Nutzer:innen waren. Die Hälfte der Nutzer:innen verwendete die PsyDiGA einmal pro Woche oder seltener. Zudem verwendeten 75% der Nutzer:innen die PsyDiGA maximal 30 Minuten am jeweiligen Tag. Der durchschnittliche Anwendungszeitraum betrug 105 Tage (SD: 60 Tage). Zu t2 befanden sich 76% der Nutzer:innen in ambulanter Psychotherapie.

Patient:innen mit mehr als 10 Jahren Schulbildung waren seltener Nutzer:innen als Patient:innen mit maximal 10 Jahren Schulbildung (OR = 0,76; 95% KI [0,39; 1,48]; p = 0,41). Auch Patient:innen mit einem Einkommen über dem Stichprobenmedian waren seltener Nutzer:innen (OR = 0,54; 95% KI [0,24; 1,21], p = 0.13). Patient:innen, die sich zu t2 nicht in einer ambulanten Psychotherapie befanden (OR = 1,54; 95% KI [0,67; 3,52]; p = 0,31), Patient:innen, die Psychopharmaka einnahmen (OR = 1,38; 95% KI [0,69; 2,80]; p = 0.37), und weibliche Patientinnen (OR = 1,43; 95% KI [0,65; 3,14]; p = 0.37) waren häufiger Nutzer:innen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass das Alter der Patient:innen mit der Inanspruchnahme assoziiert war (OR = 0,99, 95% KI [0,97; 1,01], p = 0.44).

Diskussion: Die meisten Patient:innen mit psychischen Erkrankungen (85%) verwenden keine PsyDiGA. Diejenigen, die eine PsyDiGA nutzen, verwenden sie selten. Der Großteil der Nutzer:innen ist gleichzeitig in ambulanter Psychotherapie. Unter Berücksichtigung statistischer Unsicherheit geben die vorläufigen Ergebnisse unserer Studie Hinweise darauf, dass Patient:innen mit kürzerer Schulbildung, niedrigerem Einkommen, und ohne ambulante Psychotherapie häufiger PsyDiGA in Anspruch nehmen.

Schlussfolgerung: PsyDiGA werden derzeit von Patient:innen kaum in Anspruch genommen, wobei möglicherweise der sozioökonomische Status mit der Inanspruchnahme von PsyDiGA assoziiert ist.

Für wissenschaftliche Vorträge und Gutachten wurde Susanne Singer von Lilly und Eisai vergütet, wobei es keine Berührungspunkte der Vergütungen mit der hier vorgestellten Studie gab. Sandy Scheibe war von 2021- 2023 am WIG2 Institut tätig, das DiGA-Hersteller hinsichtlich der Zulassung ihrer DiGA am BfArM beratend unterstützt. Sandra Salm hat ein Honorar für einen Vortrag von der Österreichischen Gesundheitskasse erhalten. Interessenskonflikte der anderen Autor:innen liegen nicht vor.

Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.


References

[1] Singer S, Maier L, Paserat A, Lang K, Wirp B, Kobes J, et al. Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz vor und nach der Psychotherapiestrukturreform. Die Psychotherapie. 2022;67:176–84. DOI: 10.1007/s00278-021-00551-0
[2] Karch J, Kast K. Wie können Potenziale von internet- und mobilbasierten Interventionen in der Versorgung von Depressionen genutzt werden? Erkenntnisse aus einer qualitativen Befragung deutscher Psychotherapeut*innen. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2024;186:62–8. DOI: 10.1016/j.zefq.2024.03.001
[3] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Das Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nach § 139e SGB V: Ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender (Version 3.5 vom 28.12.2023). 2023 [zitiert am 17.06.2025]. Verfügbar unter: https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/diga_leitfaden.html