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70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)
07.-11.09.2025
Jena


Meeting Abstract

Viel zu gut, um wahr zu sein – märchenhafte Effekte epidemiologischer Studien in der deutschen medizinischen Fachpresse

Susanne Stolpe 1
1Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Allgemeinmedizin (AM RUB), Medizinische Fakultät, Bochum, Germany

Text

Hintergrund: Es ist bekannt, dass Studien mit großen Effekten bevorzugt veröffentlicht werden im Vergleich zu Studien mit kleinen oder Null-Effekten [1], [2]. Besonders epidemiologische Studien, die große Effekte präventiver Maßnahmen oder Expositionen auf Erkrankungsraten und Mortalität zeigen, erzielen hohe mediale Aufmerksamkeit [3]. In einem von den Autoren durchgeführten Projekt zur Berichterstattung über epidemiologische Studien in Printmedien wurden in zwei Tageszeitungen Artikel identifiziert, die auf epidemiologischen Originalstudien basierten: in 20% dieser Studien wurden unrealistisch große Effekte zu Themen wie Mortalität, Krebs oder Depression berichtet. Diese beruhten stets auf methodisch problematischen Analysen. Es ist bislang unklar, ob und wie solche Effekte („zu gut, um wahr zu sein“) internationaler Studien auch in der deutschen medizinischen Fachpresse kommuniziert werden.

Methoden: Alle zwischen Juni und Dezember 2024 unter der Rubrik „meistgelesen“ gelisteten Artikel im Deutschen Ärzteblatt (DÄ) wurden nach Beiträgen durchsucht, die internationale epidemiologische Studien mit sehr großen oder schwer erklärbaren Effekten zusammenfassten. Die den gefundenen Beiträgen zugrundeliegenden Originalstudien wurden hinsichtlich Studiendesign und Auswertung geprüft. Zwei dieser Studien sollen exemplarisch vorgestellt werden und als Diskussionsgrundlage dienen.

Von 60 Artikeln betrafen 18 epidemiologische Studien. Vier davon zeigten auffallend große Effekte, insbesondere zu kardiovaskulären Endpunkten im Zusammenhang mit Zucker- bzw. Weinkonsum, körperlicher Aktivität sowie zu Adipositas-bedingtem Brustkrebs. Zwei Studien werden für diesen Beitrag beispielhaft näher analysiert:

  1. Domingues-Lopez et al. berichteten für Teilnehmer einer spanischen Kohorte ein um 38% niedrigeres Hazard für kardiovaskuläre Endpunkte bei moderatem Weinkonsum (3–12 Gläser/Monat) im Vergleich zu keinem Konsum – jedoch nur bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Die Studie erschien in einer Fachzeitschrift mit einem hohen Impact Factor (IF 36) [4].
  2. Stamatakis et al. fanden eine Reduktion des Hazards für kardiovaskuläre Ereignisse (MACE) um 30% und von Herzinsuffizienz um 40% bei Frauen mit nur 1,2 Minuten intensiver körperlicher Aktivität täglich im Vergleich zu inaktiven Frauen (IF 12) [5].

Beide Studien wiesen methodisch problematische Aspekte auf, darunter ungeeignete, da extreme, Vergleichsgruppen und nicht adressierten Survivor Bias. Diese könnten die Größenordnung der Effekte erklären. In der Berichterstattung des DÄ wurden diese Aspekte jedoch nicht kritisch hinterfragt.

Schlussfolgerung: Auch im Deutschen Ärzteblatt finden sich Berichte über Studien mit unrealistisch großen oder schwer erklärbaren Effekten. Solche Studien bieten Überraschungspotenzial und erzielen somit hohe Aufmerksamkeit – auch in der Fachpresse. Besonders bei alltagsnahen Expositionen und häufigen Erkrankungen werden diese Beiträge viel gelesen. Die Ergebnisse der vorgestellten Studien wurden im DÄ ohne kritische methodische Einordnung präsentiert. Dies ist insbesondere bei Studien wie jene zu den vermeintlich positiven Effekten von Weinkonsum problematisch, weil daraus gesundheitsschädigende Verhaltensmaßnahmen ableiten werden können. Es ist bemerkenswert, dass Studien mit Effekten, die mit einem gesunden Menschenverstand als unrealistisch eingeschätzt werden müssen, von Reviewern und Editoren angenommen und z.T. auch hochrangig publiziert werden.

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.


References

[1] Perneger TV, Comescure C. The distribution of P-values in medical research articles suggested selective reporting associated with statistical significance. J Clin Epidemiol. 2017;87:70–7. DOI: 10.1016/j.jclinepi.2017.04.003
[2] Erasmus A, Holman B, Ioannidis JPA. Data-dredging bias. BMJ Evidence Based Medicine. 2022; 27(4). DOI: 10.1136/bmjebm-2020-111584
[3] Reifegerste D, Wiedicke A, Temmann LJ. Medienberichterstattung zu Präventions- und Therapiemöglichkeiten an den Beispielen Diabetes mellitus und Depression. Bundesgesundheitsbl. 2021;64:28-36.
[4] Domínguez-López I, Lamuela-Raventós RM, Razquin C, et al. Urinary tartaric acid as a biomarker of wine consumption and cardiovascular risk: the PREDIMED trial. European Heart Journal. 2025;46:161-172. DOI: 10.1093/eurheartj/ehae804.
[5] Stamatakis E, Ahmadi M, Biswas RK, et al. Device-measured vigorous intermittent lifestyle physical activity (VILPA) and major adverse cardivascular events: evidence of sex differences. Br J Sports Med. 2025;59:316-324. DOI: 10.1136/bjsports-2024-108484