Künstliche Intelligenz: Die digitale Zukunft in der Pflege gestalten. 9. Fachtagung Technik – Ethik – Gesundheit
Künstliche Intelligenz: Die digitale Zukunft in der Pflege gestalten. 9. Fachtagung Technik – Ethik – Gesundheit
Digitale Technik trifft Pflegealltag – und stolpert über WLAN und Wirklichkeit
Text
Einleitung & Motivation
Die digitale Transformation der Pflegeversorgung stellt einen zentralen Wendepunkt dar, insbesondere für den ländlichen Raum, wo traditionelle Strukturen der pflegerischen Betreuung zunehmend unter Druck geraten. Moderne Technologien wie Telemedizin, digitale Patientenakten und vernetzte Pflegeplattformen ermöglichen es, die pflegerische Versorgung effizienter, zugänglicher und individueller zu gestalten. So können Patienten nicht nur schneller mit Pflegedienstleistern kommunizieren, sondern auch eine kontinuierliche Überwachung und Anpassung ihrer Behandlungen und Betreuungen erhalten. Gleichzeitig hilft die Digitalisierung, den Fachkräftemangel im Pflegesektor zu kompensieren, indem sie Arbeitsabläufe automatisiert und Ressourcen besser verteilt. Erforderlich sind Alltagstauglichkeit, eine hohe Nutzerfreundlichkeit sowie die Akzeptanz durch die pflegebedürftigen Personen und ihr Umfeld, die sicherstellen müssen, dass auch vulnerable oder technikfremde Bevölkerungsgruppen vom Fortschritt profitieren können. Die Fokussierung auf die Nutzerzentrierung erfordert dabei ein tiefgreifendes Verständnis der Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Endbenutzer: die angedachten Lösungen müssen nicht nur konzeptionell und technisch funktionieren – vielmehr handelt es sich bei der digitalen Transformation um komplexe Veränderungsprozesse, welche die Lebenswelt von Menschen beeinflussen und neu ordnen. Ein praktisches Beispiel hierfür ist das Forschungsprojekt Digi-ORT, das darauf abzielte, die Lücke zwischen technologischer Innovation und realer Anwendung im Gesundheitsbereich zu schließen. Im Rahmen des Projektes ist es gelungen, eine neuartige digitale Lösung zur ganzheitlichen Vernetzung von BürgerInnen und PatientInnen sowie Anbietern der Gesundheits- und Pflegeversorgung vor Ort im ländlichen Raum in einem Reallabor „Gesundheitsstandort Haushalt“ zu testen und längsschnittlich nach Akzeptanzgesichtspunkten zu evaluieren.
Material & Methoden
Das Projekt Digi-ORT setzte an einer realen Problematik des ländlichen Raums im Oberen Rodachtal an: Der Anteil älterer Menschen in der Region ist bereits heute hoch und wird in den kommenden Jahren weiter steigen, während gleichzeitig ein Rückgang der übrigen Bevölkerungsgruppen zu erwarten ist und die medizinische Versorgung von einer vergleichsweise kleinen Zahl an Hausärzten sichergestellt wird, die sich mehrheitlich bereits im höheren Alter befinden. Unter Einsatz der Reallaborforschung, welche die Initiierung und Begleitung realer Transformationsprozesse sowie das Heben von Wissen über solche Prozesse ermöglicht [1] und als eine Art „institutionalisierte(r) Aktions- bzw. Interventionsforschung“ [2] verstanden werden kann, wurden Technologien und Services entwickelt und getestet, die das Wohlbefinden und die Selbstständigkeit der Nutzer fördern, indem sie eine umfassende Vernetzung und Interaktion zwischen Patienten, Ärzten und Gesundheitsdienstleistern ermöglichen. Insgesamt wurden sieben ausgewählte Testhaushalte im Landkreis Kronach und insbesondere im Oberen Rodachtal in den Gemeinden Nordhalben, Steinwiesen und Wallenfels über die Testdauer von mehr als einem Jahr mit vernetzter Home-Care Technologie ausgestattet. Ziel des Designs war es, innerhalb eines längsschnittlichen Erhebungsrahmens reale Veränderungen in der Akzeptanz und Nutzbarkeit digitaler Technologien im häuslichen Umfeld zu beobachten – insbesondere vor dem Hintergrund möglicher Gewöhnungseffekte, individueller Krankheitsverläufe und zunehmender Technikvertrautheit im Zeitverlauf. Zur Vermeidung einer Überforderung der Zielgruppe im Reallabor und zur Förderung der Akzeptanz digitaler Technologien wurde ein bewusst schrittweises, iteratives Vorgehen gewählt. Dieses betraf sowohl die Einführung der Technologien als auch deren anschließende Erprobung und Evaluation. Bei den vernetzten Einzeltechnologien handelte es sich einerseits um sog. Smart Home-Komponenten in Form von Präsenzmeldern, Türkontakten, Steckdosen und einen Sturzmelder, andererseits um Smart Health-Technologien wie eine digitale Armbanduhr, eine Schlafmatte, eine digitale Waage, ein digitales Blutdruckmessgerät sowie smarte Textilien, die die ein niederschwelliges Langzeit-EKG in der häuslichen Umgebung ermöglichen. Pro Haushalt wurden monatlich ein bis drei Technologien installiert, die jeweils in drei separaten 14-tägigen Phasen getestet wurden: unmittelbar nach der Installation (T0) sowie zwei und fünf Monate später (T1, T2). Den Abschluss bildete die integrierte Testung des gesamten vernetzten Systems über zwei weitere Erhebungszeiträume (T3, T4).
Zur Messung der Akzeptanz der Technologien kamen für die Eingangsbewertung (T0) eine angepasste Version des Technology Acceptance Model 3 (TAM 3) [3], [4] sowie für die Folgebewertungen der User Experience Questionnaire (UEQ) [5], [6] zum Einsatz. Ergänzt wurden diese durch Einzelitems zur Beurteilung von Bedienfreundlichkeit, Nützlichkeit und Nutzungshäufigkeit. Die zweite Evaluationsdimension – Gesundheits- und Selbstständigkeitsaspekte – wurde mithilfe der Technikaffinitätsskala (TA-EG) [7], der Skala zur Allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) [8] sowie durch Einzelitems zur Selbsteinschätzung von Gesundheit und Selbstständigkeit abgedeckt.
Ergebnisse
Die Reallabore bestanden nach Ausscheiden von drei Probanden wegen Todes aus insgesamt sieben Haushalten mit teilnehmenden Personen im Alter von 58 bis 88 Jahren. Sowohl hinsichtlich des Alters als auch der Technikerfahrung und des Gesundheitszustandes konnte ein sehr breites Spektrum aus der vulnerablen Zielgruppe der chronisch kranken und pflegebedürftigen Personen abgebildet werden: Die Krankheitsbilder der allein sowie in Familien lebenden Personen reichten von Bluthochdruck, Diabetes, Arthrose, COPD, Krebs, Parkinson bis hin zu Tetraplegie und Multipler Sklerose im fortgeschrittenen Stadium mit Pflegegrad 5. Ein ähnlich diverses Bild zeichnete sich bei der Technikaffinität der Reallabor-Haushalte. Auch in Bezug auf die in den Reallaboren installierten Technologien selbst ergab sich ein unterschiedliches Bild in Abhängigkeit von der jeweiligen Erkrankung, der Technikaffinität sowie individuellen Wünschen: Insgesamt konnten bis zu zehn verschiedene Einzeltechnologien in den Reallaboren eingesetzt werden, die mittels des sogenannten Home Data Gateways eine zentrale und innerhäusliche Speicherung aller, über die Einzeltechnologien erhobenen Daten inkl. eines geschützten Teilens dieser Daten mit außerhäuslichen Akteuren wie beispielsweise Ärzten, Pflegediensten oder Angehörigen ermöglichte.
Bedingt durch interindividuelle Unterschiede als auch Unterschiede hinsichtlich der in den Reallaboren installierten Technologien zeigten sich Herausforderungen auf der Ebene Mensch:
- Technikaffinität (z.B. große Unterschiede im Umgang mit Technik; trotz Schulungen häufig Bedienungsrückfragen; bei Unsicherheit: Angst vor Fehlbedienung, vor Technologie selbst; bei starker Ablehnung: sofortige Deinstallation zur Wahrung des Schutzraums)
- Emotionsarbeit (z.B. vertrauensvolle, oft freundschaftliche Beziehungen durch lange Projektbegleitung im häuslichen Umfeld; persönliche Themen beeinflussten Installationen & Schulungen; soziale Nähe führte teils zu sozial erwünschtem Antwortverhalten bei Evaluationen)
- Technikbezogene Ängste (z.B. Angst vor Strahlung durch Sensorik, Platzangst bei enganliegender Technik, Unbehagen bei elektrischen Geräten im Bett, Überwachungsgefühl; vollständiger Technikrückzug zur Vermeidung von Belastungssituationen)
- Dropouts & gesundheitsbedingte Einschränkungen (z.B. Todesfälle, Reha-Aufenthalte, Krankheit, Urlaube oder familiäre Verpflichtungen führten zu fehlenden oder qualitativ eingeschränkten Fragebögen; Online-Daten teils doppelt oder unvollständig)
Zudem gab es Herausforderungen auf der Ebene der Technik, die sowohl Installation der Technologien als auch die laufende Erprobung im Betrieb betrafen:
- Bauliche Gegebenheiten (z.B. Schiebetüren, Türisolationen, Einbaugeräte – erschwerte Installation von Türkontakten, reduzierte Datenqualität)
- Konnektivitätsprobleme (z.B. Bluetooth, WLAN, mobiles Netz; unzureichende Signalreichweite in großen Haushalten, Datenverluste, eingeschränkter Einsatz von SIM-basierten Geräten wie Sturzmeldern)
- Wartungsaufwand & Geräteaustausch (z.B. häufige Batteriewechsel bei digitalen Uhren, technisches Know-how erforderlich, manuelle Re-Integration ins System meist nicht durch Haushalte leistbar)
- Erwärmung von Geräten (z.B. starke Erwärmung einzelner Technologien, Sorgen über Brandgefahr, Maßnahmen wie zusätzliche Kühlung/Geräteaustausch trotz CE-Kennung)
- Fehlmessungen bei Gesundheitstechnologien (z.B. ungenaue Blutdruckwerte, falsche Aktivitätserkennung, z.B. „Fahrradfahren“ statt Rollator, Schlaftracking in Lesesituationen, kein Geräteaustausch möglich aufgrund Systembindung)
- Unzureichende Benutzeroberflächen (z.B. kleine Schrift, schwache Kontraste, fehlende Erklärungen)
Eine gelungene Anwendung pflegerischer Technologieimplementierung und -nutzung zeigte sich in Haushalten mit hoher Technikaffinität, wo nahezu alle Technologien installiert und aktiv genutzt wurden. Hier konnten positive Effekte auf die Tagesstruktur, das Sicherheitsgefühl und die Eigenverantwortung beobachtet werden.
Diskussion
Ziel der Evaluation war es, durch die Umsetzung in Reallaboren in der häuslichen Umgebung erste Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie sich während einer längsschnittlichen Erprobungsphase Akzeptanz und Bedienbarkeit von technischen Systemen in Abhängigkeit von Gewöhnungseffekten, einem ggf. veränderten Nutzungsverhalten aufgrund von Erkrankungen oder einer gestiegenen Technikerfahrung verändern. Über den gesamten Zeitraum hinweg konnten Erkenntnisse zur Akzeptanz digitaler Versorgungslösungen erhoben werden, auch wenn infolge der Herausforderungen nicht in allen Fällen eine vollständige längsschnittliche Auswertung möglich war. Einige Evaluationen mussten so durch querschnittliche Betrachtungen ersetzt werden. Es wirkten im Forschungsprojekt Digi-ORT sowohl Herausforderungen auf Ebene Mensch als auch Herausforderungen auf Ebene Technik direkt bzw. indirekt auf die Akzeptanz digitaler Pflegelösungen. Dabei wurde deutlich, dass digitale Technologien keine rein technischen Produkte, sondern sozio-technische Systeme darstellen, deren Wirksamkeit wesentlich von ihrer Einbettung in Alltag, Infrastruktur und zwischenmenschliche Beziehungen abhängt. Im Zentrum steht daher nicht nur das Testen einzelner Geräte, sondern die Frage, wie digitale Technologien nachhaltig, sicher und nutzerzentriert in pflegerische Settings integriert werden können. Digitalisierung in der Pflege verändert nicht nur Strukturen und bringt Verunsicherung, sondern fordert neue Formen der Zusammenarbeit, des Lernens und der Technikvermittlung.
Um diesen komplexen Transfer systematisch zu unterstützen wurde eine Checkliste kritischer Erfolgsfaktoren entwickelt – als praxisnahe Orientierungshilfe für Konzeption, Umsetzung und Begleitung solcher digitalen Anwendungsszenarien (vgl. Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Checkliste richtet sich an Forschungsteams und Betreibende von Reallaboren, insbesondere im Bereich häuslicher Pflege, aber auch an Einrichtungen der stationären Versorgung. Ziel ist es, typische Stolpersteine frühzeitig zu erkennen, digitale Systeme zielgerichtet auszuwählen und einzuführen, um so valide Erkenntnisse über Akzeptanz, Wirkung und Alltagstauglichkeit digitaler Pflegeinnovationen zu gewinnen. Neben technischen Anforderungen werden auch soziale, emotionale und infrastrukturelle Aspekte berücksichtigt – mit dem Anspruch, Digitalisierung ganzheitlich und verantwortungsvoll zu gestalten.
Abbildung 1: Checkliste für den Einsatz digitaler Technologien im Gesundheitsstandort Pflege
Förderung
Das Forschungsprojekt „Digitale medizinisch-pflegerische Versorgung und assistiertes Wohnen im Oberen Rodachtal (Digi-ORT)“ wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördert. (Projektlaufzeit: 2018–2022).
Literatur
[1] Beecroft R, Trenks H, Rhodius R, Benighaus C, Parodi O. Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. In: Di Giulio A, Defila R, editors. Transdisziplinär und transformativ forschen. Wiesbaden: Springer VS; 2018. DOI: 10.1007/978-3-658-21530-9_4[2] Parodi O, Beecroft R, Albiez M, Quint A, Seebacher A, Tamm K, Waitz C. Von „Aktionsforschung“ bis „Zielkonflikte“: Schlüsselbegriffe der Reallaborforschung. TATuP - Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis. 2016;25(3):9-18.
[3] Venkatesh V, Bala H. Technology Acceptance Model 3 and a Research Agenda on Interventions. Decision Sciences. 2008;39:273–315. DOI: 10.1111/j.1540-5915.2008.00192.x
[4] Claßen K. Zur Psychologie von Technikakzeptanz im höheren Lebensalter: Die Rolle von Technikgenerationen [Doctoral dissertation]. 2013.
[5] Laugwitz B, Schrepp M, Held T. Construction and evaluation of a user experience questionnaire. In: Holzinger A, editor. USAB 2008: HCI and Usability for Education and Work. 4th Symposium of the Workgroup Human-Computer Interaction and Usability Engineering of the Austrian Computer Society; 2008 Nov 20-21; Graz, Austria. Springer; 2008. (Lecture Notes in Computer Science; 5298). p. 63-76.
[6] Schrepp M, Hinderks A, Thomaschewski J. Construction of a benchmark for the User Experience Questionnaire (UEQ). International Journal of Interactive Multimedia and Artificial Intelligence. 2017;4(4):40-44.
[7] Karrer K, Glaser C, Clemens C, Bruder C. Technikaffinität erfassen – der Fragebogen TA-EG. Der Mensch im Mittelpunkt technischer Systeme. 2009;8:196–201.
[8] Jerusalem M, Schwarzer R. SWE-Skala zur Allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung. 2003.



