Logo

Künstliche Intelligenz: Die digitale Zukunft in der Pflege gestalten. 9. Fachtagung Technik – Ethik – Gesundheit


20.-21.05.2025
Nürnberg


Meeting Abstract

Partizipative Entwicklung einer digitalen Plattform zur Koordination der ambulanten Pflegeversorgung im ländlichen Raum

1Bayerisches Zentrum Pflege Digital, Kempten, Deutschland

Text

Einleitung & Motivation

Prognosen zufolge wird die Anzahl der Pflegebedürftigen im Landkreis Oberallgäu von 5.600 Personen im Jahr 2021 auf 7.482 im Jahr 2040 ansteigen. Zudem wird erwartet, dass die Nachfrage nach ambulanter Pflege im selben Zeitraum um 40 % zunehmen wird [1]. Obwohl der Landkreis Oberallgäu über ein breit aufgestelltes Pflegeangebot mit stationären und ambulanten Diensten verfügt, droht die Überlastung der Kapazitäten. Somit steht der Landkreis Oberallgäu – wie viele Regionen in Deutschland – vor großen Herausforderungen, die durch den demografischen Wandel bedingt sind. Im südbayerischen Oberallgäu erschweren jedoch zusätzlich die alpine Infrastruktur und die starke Zersiedelung die Gesundheits- und Pflegeversorgung. Die ambulante Pflege ist daher mit langen, oft unwirtschaftlichen Anfahrtswegen konfrontiert.

Dies steht dem Wunsch vieler Pflegebedürftiger entgegen, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu leben. Mittlerweile stoßen die ambulanten Pflegedienste jedoch an wirtschaftliche und organisatorische Grenzen – nicht nur angesichts des Personalmangels, sondern auch aufgrund mangelnder Effizienz in der Tourenplanung, im Anfragemanagement und fehlender Koordination der Versorgung. Gleichzeitig stehen Pflegebedürftige sowie deren An- und Zugehörigen vor der Herausforderung, passende Dienste zu finden, da verfügbare Kapazitäten schwer einsehbar sind und Anfragen oft auf Ablehnungen stoßen. All diese Faktoren erschweren die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung in dem Flächenlandkreis erheblich.

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, wurde die Entwicklung einer digitalen Koordinationsplattform für ambulante Pflegedienste initiiert. Sie soll die Vermittlung und Organisation von Pflegeleistungen optimieren, indem sie als zentrale Kommunikations- und Steuerungslösung für alle Beteiligten dient. Ziel ist es, Versorgungsanfragen an ambulante Pflegedienste zu bündeln und passgenau an verfügbare Dienste zu vermitteln, um den Koordinationsaufwand und die Wartezeiten für Pflegebedürftige und deren An- und Zugehörige zu reduzieren. Durch eine digitale Vernetzung zwischen Pflegediensten, Pflegebedürftigen und Angehörigen wird die Zusammenarbeit intensiviert (u. a. durch eine Chatfunktion mit Anbindung an die Telematikinfrastruktur).

Die Plattform ermöglicht darüber hinaus eine datenbasierte Steuerung der pflegerischen Versorgung in der Zielregion, indem sie steuerungsrelevante Versorgungsdaten erzeugt und bündelt. Versorgungslücken können somit frühzeitig erkannt und Fehlentwicklungen gegengesteuert werden. Funktionen zur Visualisierung (wie etwa die geografische Verteilung von Versorgungsfällen und Fahrtrouten) erlauben es den Pflegediensten vor Ort, ihre Tourenplanung bei Bedarf besser aufeinander abzustimmen oder sogar gemeinsam zu planen, da unterversorgte Regionen und unversorgte Personen sichtbar gemacht werden. Die Plattform ist modular aufgebaut und kann flexibel an künftige Anforderungen angepasst werden. So sollen in einem nächsten Entwicklungsschritt auch ehrenamtliche Unterstützungsangebote angefragt und in die Versorgungskoordination einbezogen werden können. Die Plattform kann als soziotechnisches Gesamtmodell auf andere Regionen übertragen werden.

Das Vorhaben wird wissenschaftlich begleitet und beraten. Dabei wird auch untersucht, wie partizipative Forschung und co-kreative Technikentwicklung als Impulsgeber für Veränderungen in regionalen Versorgungsstrukturen wirksam werden können.

Material & Methoden

Das Projekt verfolgt einen partizipativen Entwicklungsansatz, der Methoden der empirischen Sozialforschung mit Ansätzen co-kreativer Technikentwicklung und User-Experience-Designs (UX-Design) kombiniert. Über diese Methoden werden fünf Stakeholdergruppen aus Wissenschaft, Kommunalpolitik bzw. -verwaltung, ambulanter Pflege, Technologie-Wirtschaft und zivilgesellschaftliche Laien in einen gemeinsamen Innovationsprozess integriert. Durch ihr Zusammenwirken wird sichergestellt, dass die Plattform nicht nur technologisch ausgereift, sondern auch bedarfsgerecht, nachhaltig und praxistauglich ist. Für das Projekt ist insofern eine soziotechnische Perspektive leitend.

Ambulante Pflegedienste haben dabei eine Schlüsselrolle als Praxispartner inne: Sie bringen ihr Wissen aus der täglichen Arbeit ein, identifizieren Herausforderungen in der Pflegekoordination und testen die Plattform in der täglichen Versorgungspraxis. Die Kreisverwaltung sorgt für die politischen und administrativen Rahmenbedingungen. Sie fördert die Vernetzung der Akteur:innen und unterstützt die nachhaltige Implementierung der Plattform. Das Bayerische Zentrum Pflege Digital (BZPD) liefert als wissenschaftlicher Partner die methodischen und analytischen Grundlagen, indem es den Entwicklungsprozess mit sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden begleitet. Ein Technologiepartner setzt die digitale Plattform technisch um.

Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sind – als fünfte Zielgruppe – in diesem Projekt nicht nur passive Empfangende von Pflegeleistungen, sondern aktive Mitgestalter:innen des Projekts. Auch ihre Bedürfnisse, Erfahrungen und Rückmeldungen fließen kontinuierlich in den Entwicklungsprozess ein. Partizipativ gestaltete Workshops und regelmäßige Feedbackrunden stellen hier sicher, dass die Plattform intuitiv bedienbar ist und den alltäglichen Anforderungen dieser Zielgruppe gerecht wird.

Neben regelmäßigen co-kreativen Workshops und iterativen Feedbackschleifen mit der Kreisverwaltung und Pflegediensten werden Usability-Tests und Live-User-Analysen mit Pflegebedürftigen und/oder pflegenden Angehörigen eingesetzt, um sicherzustellen, dass die Plattform sowohl den unterschiedlichen funktionell-technischen Anforderungen als auch den Gegebenheiten und Bedarfen im Praxiseinsatz gerecht wird. Daher werden im Zuge der genannten Formate mit der Kreisverwaltung und den beteiligten Pflegediensten auch Governance-Aspekte mit bearbeitet (z. B. die Einbindung kommunaler Gremien oder nötige Anpassungen in den Strukturen und Routinen der Zusammenarbeit). Teilnehmende Beobachtungen und Befragungen liefern im Zuge der prozessbegleitenden Evaluation u. a. die dafür nötigen Einblicke in die Zusammenarbeit zwischen Pflegediensten, kommunalen Entscheidungsträger:innen und weiteren Akteur:innen.

Ergebnisse

Das Projekt zeigt, wie partizipative Forschung und co-kreative Entwicklung nicht nur Transformationsprozesse anstoßen, sondern sie auch in einer nachhaltig fördernden Weise eng begleiten können. Dabei wird deutlich, wie unterschiedliche – mitunter auch divergierende –Erwartungen oder Interessen der Beteiligten berücksichtigt und ggf. ausgeglichen werden müssen.

Erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der Einsatz der Plattform die Suche nach und Vermittlung von ambulanten Pflegediensten erleichtert und beschleunigt. Aus Sicht der Kreisverwaltung eröffnen sich mit der Plattform jetzt neue Möglichkeiten zur systematischen Erfassung von Versorgungsbedarfen und zur datenbasierten Steuerung von Versorgungsangeboten.

Als ein Erfolgsfaktor des Projekts erweist sich die gemeinsame Haltung der Beteiligten, die selbst initiiert eine neue Kultur der Kooperation und gemeinsamen Verantwortung für die Versorgungssicherheit in der Region vorleben. Dies wird im Projekt u. a. in Form einer Team-Charta mit gemeinsamen Zielen und Leitlinien für eine faire Zusammenarbeit sichtbar.

Ein weiterer zentraler Erfolgsfaktor ist in der Schaffung neuer Versorgungs- und Koordinationsstrukturen zu sehen, die von dieser neuen Interaktionskultur ausgehend eine zentrale Verteilung von Pflegeanfragen und eine optimierte Tourenplanung erst möglich machen.

Das Projekt legt zudem den Schluss nahe, dass technologische Innovationen vor allem dann Aussicht auf Akzeptanz und Nachhaltigkeit haben, wenn sie gemeinsam mit den späteren Nutzer:innen entwickelt werden. Die gezielte Verzahnung von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft hat vor diesem Hintergrund auch im Kontext von Gesundheit, Pflege und Sorge innovationsförderndes Potenzial. Wissenschaft liefert methodische und analytische Grundlagen, Wirtschaft entwickelt technologische Lösungen, Politik schafft förderliche Rahmenbedingungen, Gesellschaft bringt Bedarfe und Erfahrungen ein, und die Endnutzer:innen gewährleisten eine praxisnahe Gestaltung und Akzeptanz. Nur durch diese enge Zusammenarbeit kann eine zukunftsfähige digitale Lösung geschaffen werden, die über den Landkreis Oberallgäu hinaus als Modell für andere Regionen dienen kann.

Das Projekt zeigt letztlich auch, dass innovative lokale Pflegeversorgung nicht nur technologische Anpassungsschritte erfordert, sondern auch einen Wandel in den sozialen Strukturen, den Prozessen, den Denkweisen und den Handlungsstrategien versorgungsrelevanter Organisationen.

Diskussion

Die Projektergebnisse zeigen das enorme Potenzial digitaler Lösungen zur Entlastung aller Akteure in der häuslichen Pflege in ländlichen Regionen. Die digitale Plattform fördert nicht nur die Kommunikation und verbessert die Koordination, sondern stärkt auch die pflegerische Infrastruktur durch bedarfsgerechte Versorgungsplanung.

Der Erfolg des Projekts beruht auf der frühzeitigen Einbindung aller relevanten Beteiligten, da dies Akzeptanz und strukturelle Verankerung fördert. Es zeigt sich, dass partizipative Forschung, UX-Design und ethnografische Begleitung zu einer praxisnahen Gestaltung der digitalen Technologie beitragen. Herausforderungen bestehen insbesondere mit Blick auf Datenschutz, Interoperabilität mit bestehenden Systemen und Nachhaltigkeit. Die Weiterentwicklung der Team-Charta und die Einbindung weiterer Akteur:innen könnte jedoch die Nachhaltigkeit der digitalen Plattform fördern.

Angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege sind digitale Innovationen essenziell. Die digitale Plattform steigert nicht nur Effizienz, sondern ermöglicht auch neue Kooperationsformen und Strukturen. Zukünftig könnte der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) die Pflegekoordination weiter verbessern – etwa durch intelligente Verteilung von Anfragen, Tourenplanung per Echtzeit-Datenanalyse und frühzeitige Identifikation von Versorgungsengpässen. Zudem könnte KI die Kommunikation zwischen Pflegeakteur:innen durch automatisierte Prozesse und Chatbots erleichtern. Dies wiederum kann Pflegedienste entlasten.

Die Weiterentwicklung der Plattform ist ein bedeutender Schritt hin zu einer technologiegestützten, zukunftsfähigen Pflegeversorgung. Sie zeigt, wie Digitalisierung als Innovationsmotor zur Schließung von Versorgungslücken und zur Verbesserung der Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen beitragen kann.


Literatur

[1] Bayerisches Landesamt für Pflege. Pflegebedarfe 2050. [Zugriff: 07.04.2025]. Verfügbar unter: https://www.pflegebedarf2050.bayern.de/