70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
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Ethische Grenzbereiche von Gamification und Serious Games in der Gesundheitsförderung und Prävention
Text
Einleitung: Die persuasive Technologie Gamification ist eine Anwendung spieltypischer Elemente in nicht spielerischem Kontext. Serious Games dienen der Vermittlung von Lern- oder Trainingsinhalten, der Unterhaltungsfaktor hat jedoch Vorrang gegenüber pädagogischen Inhalten. Beides wird in der Gesundheitsförderung und Prävention eingesetzt, um Motivation und Verhaltensweisen von Nutzern positiv zu beeinflussen. Der Einsatz digitaler Technologien in der Alltags- und Arbeitswelt wurde durch die COVID-19-Pandemie forciert, und es lohnt daher, ethische Aspekte von Gamification und Serious Games erneut zu betrachten. Drei Aspekte werden kritisch beleuchtet: der Mechanismus von Leistung und Belohnung, das biomedizinische Modell von Gesundheit sowie die Förderung von Adhärenz einerseits und Sucht und Abhängigkeit andererseits.
Methodik: Orientierende Recherchen in Datenbanken und Websites für eine fokussierte Informationsbeschaffung wurden durch Citation tracking ergänzt.
Ergebnisse: Leistung steht im Vordergrund von Gamification und Serious Games, und das Erreichen höherer Levels wird mit digitalen Abzeichen und Pokalen sowie einem besseren Status im Vergleich zu anderen belohnt. Kreativität wird kaum gefördert, was im Deutschen nicht unmittelbar einsichtig ist, da das Wort „Spiel“ keine Unterscheidung zwischen „Game“ und „Play“ ermöglicht. Gamification zur Förderung einer gesunden Ernährung und körperlicher Aktivität folgt mit dem Erfassen von Schritten, Pulswerten oder getrunkenen Gläsern Wasser dem biomedizinischen Modell, das in der Präventionsforschung vom biopsychosozialen Modell abgelöst wurde [1]. Ein obsessiver Umgang mit dem quantitativen Feedback kann die körperliche Gesundheit gefährden, ein verzerrtes Körperbild vermitteln, Stress verursachen und die psychische Gesundheit beeinträchtigen [2]. Erinnerungen und Benachrichtigungen verbessern die Adhärenz an Therapien, können aber auch Stress auslösen, wenn Ziele nicht erreicht werden [2], [3]. Das generelle Risiko für eine Digitalsucht kann durch Gamification und Serious Games steigen, insbesondere durch Immersion und Flow-Erleben [3], [4].
Diskussion: Die mit Gamification und Serious Games vermittelte Assoziation von Gesundheit und Leistung steht im Widerspruch zu Immanuel Kants Verständnis von Gesundheit als etwas Schicksalhaftem („Glücksgabe“), das auch Teil des Sozialstaatsprinzips ist. Darüber hinaus sind nicht alle Menschen gleichermaßen leistungsorientiert, ehrgeizig oder an Spielen mit virtueller Belohnung interessiert. Werden Ziele nicht erreicht, können sich Schuldgefühle, Depression und Verzweiflung einstellen [2]. Ähnlich kann negatives Feedback wirken, das Menschen unter Druck setzt, beschämt und demotiviert [2], [3]. Auf René Descartes, der den Körper als Mechanismus verstand, geht das biomedizinische Modell von Gesundheit zurück. In der Gesundheitsförderung und Prävention gilt es als veraltet, wird jedoch durch Gamification und Serious Games mit dem Fokus auf messbare Daten perpetuiert. Zum Erreichen von Gesundheitszielen muss Motivation langfristig aufrechterhalten werden, was für die Entwickler von Gamification und Serious Games eine Herausforderung darstellt [3], [5]. Komplexere Spiel-Elemente, die eine langfristige Motivation gewährleisten könnten, bergen die Gefahr, von der Bedeutung eines Gesundheitsziels abzulenken [3]. Welche Funktionen nachhaltige Verhaltensänderungen sowohl positiver als auch negativer Art in Richtung einer pathologischen Mediennutzung bewirken, ist bisher wenig verstanden, und der Forschungsbedarf ist groß [3], [4], [5].
Schlussfolgerung: Bei Gamification und Serious Games zur Gesundheitsförderung und Prävention müssen der Leistungs- und Belohnungsmechanismus sowie das biopsychosoziale Modell beachtet werden, um Demotivation und andere negative Folgen zu vermeiden. Für einen nachhaltigen Erfolg ist es von Bedeutung, dass keine Abhängigkeit entsteht oder Gesundheitsziele in den Hintergrund treten.
Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autorin gibt an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.
Literatur
[1] Franzowiak P, Hurrelmann K. Gesundheit. In: Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. DOI: 10.17623/BZGA:Q4-i023-2.0[2] Chen H, Schoefer K, Manika D, Tzemou E. The “Dark Side” of General Health and Fitness-Related Self-Service Technologies: A Systematic Review of the Literature and Directions for Future Research. Journal of Public Policy & Marketing. 2024;43(2):151-170. DOI: 10.1177/07439156231224731
[3] Castellano-Tejedor C, Cencerrado A. Gamification for mental health and health psychology: Insights at the first quarter mark of the 21st century. Int J Environ Res Public Health. 2024;21:990. DOI: 10.3390/ijerph21080990
[4] Nyström, T. Exploring the Darkness of Gamification: You Want It Darker? In: Intelligent Computing. Proceedings of the 2021 Computing Conference, Volume 3. Cham: Springer; 2021. p. 491–506. DOI: 10.1007/978-3-030-80129-8_35
[5] Nishi SK, Kavanagh ME, Ramboanga K, Ayoub-Charette S, Modol S, Dias GM, Kendall CWC, Sievenpiper JL, Chiavaroli L. Effect of digital health applications with or without gamification on physical activity and cardiometabolic risk factors: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. EClinicalMedicine. 2024;76:102798. DOI: 10.1016/j.eclinm.2024.102798



