70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
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Retrospektive Kälterisikoanalyse: Einfluss meteorologischer Faktoren auf die Mortalität
2Human-Biometeorologie, Zentrum für Medizin-Meteorologische Forschung (ZMMF), Deutscher Wetterdienst, Freiburg, Germany
Text
Einleitung: Die Exposition durch Kälte stellt in Europa ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar und ist mit einem signifikanten Anstieg der Mortalität verbunden [1]. Die vorliegende retrospektive explorative Kälterisikoanalyse beleuchtet im Zeitraum 2001–2024 den Einfluss kältespezifischer meteorologischer Parameter auf die Mortalität in Deutschland. Ziel ist es, kältebedingte Mortalitätsraten bundeslandscharf zu quantifizieren und damit einen wichtigen Beitrag zur Einschätzung der gesundheitlichen Risiken durch Kälte zu leisten.
Methoden: Die meteorologischen Parameter stammen von 32 ausgewählten DWD-Stationen. Die Analyse basiert auf täglichen Mortalitätsdaten auf Bundeslandebene des Forschungsdatenzentrums des Bundes [2]. Zusätzlich fließen Daten des Robert Koch-Institutes zur syndromischen Überwachung akuter Atemwegserkrankungen (ARE) [3] und COVID-19-Todesfälle in die Untersuchung ein [4]. Die Analyse berücksichtigt die stündlich gemessene Lufttemperatur und die berechnete gefühlte Temperatur, welche weitere Faktoren wie Windgeschwindigkeit, Luftfeuchtigkeit und Bewölkung einbezieht, um die thermische Belastung abzubilden [5]. Der Fokus der statistischen Analyse richtet sich auf Kältewellen, definiert als Zeiträume von mindestens drei aufeinanderfolgenden Wintertagen (analysiert für die Monate Dezember, Januar, Februar) mit einem Tagesmittelwert der Lufttemperatur oder der gefühlten Temperatur unterhalb des 5. Perzentils. Dabei werden Kältestressstufen nach der Methodik des DWD [5] mit einbezogen.
Ergebnisse: In den ausgewerteten Winterzeiträumen liegt die mittlere Lufttemperatur bei 2 °C (Minimum, Min: −16 °C), die mittlere gefühlte Temperatur bei -4 °C (Min: −24 °C). Die thermophysiologische Belastung reicht von leichtem Kältestress (gefühlte Temperaturen zwischen 0 °C und −13 °C) bis zu mäßigem Kältestress (−13 °C bis −26 °C). Kältewellen treten in Deutschland im Zeitraum von 2000 bis 2024 durchschnittlich 1.4 mal pro Jahr auf und dauern im Mittel 4 Tage. Die mittlere Lufttemperatur während dieser Ereignisse beträgt −7 °C (Standardabweichung, SD: ±2 °C), die mittlere gefühlte Temperatur −15 °C (SD: ±3 °C). Die Schwellenwerte (5. Perzentil) der gefühlten Temperatur liegen in allen Bundesländern deutlich unter denen der Lufttemperatur. Die Entwicklung des Anteils an Kältetagen und Kältewellen zeigt eine starke interannuelle Schwankung mit einem Maximum um 2010 und eine insgesamt abnehmende Häufigkeit von Ereignissen mit extremem Kältestress in den letzten Jahren.
Die durchschnittliche Mortalitätsrate liegt bei 3 pro Tag je 100.000 Einwohner (SD: ±0,50). Den Höchstwert erreichte die Mortalität im Jahr 2021 infolge der COVID-19-Pandemie.
Die saisonale Entwicklung der wöchentlichen erwarteten Mortalität zeigt jährliche Winterspitzen in allen Bundesländern über den gesamten Zeitraum. In den Bundesländern sind mehrere lokale Maxima erkennbar – insbesondere im Temperaturbereich zwischen –17 °C und –9 °C (Lufttemperatur) sowie zwischen –22 °C und –16 °C (gefühlte Temperatur). Die regionalen Unterschiede in der Abweichung von der erwarteten Mortalitätsrate reichen von 0,15 pro Tag je 100.000 Einwohner in Bayern bei einer Lufttemperatur von –9 °C und einer gefühlten Temperatur von –16 °C bis zu 0,55 pro Tag je 100.000 Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern bei einer Lufttemperatur von –9 °C und einer gefühlten Temperatur von –17 °C.
Schlussfolgerung: Die Ergebnisse bestätigen, dass Kälte, insbesondere bei niedrigen Temperaturen, mit einer erhöhten Mortalitätsrate verbunden ist und zusätzliche Faktoren wie Wind und Luftfeuchtigkeit das Risiko weiter erhöhen können. Weiterführende Analysen sind geplant insbesondere hinsichtlich des Einflusses von Grippewellen und COVID-19 sowie der zeitlichen Dynamik vor und nach Kältewellen. Zudem sollen für eine gezieltere thermophysiologische Bewertung verschiedener Kältestressstufen ausgewertet werden.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.
Literatur
[1] Zhao Q, Guo Y, Ye T, Gasparrini A, Tong S, Overcenco A, Urban A, Schneider A, Entezari A, Vicedo-Cabrera AM, Zanobetti A, Analitis A, Zeka A, Tobias A, Nunes B, Alahmad B, Armstrong B, Forsberg B, Pan SC, Íñiguez C, Ameling C, De la Cruz Valencia C, Åström C, Houthuijs D, Dung DV, Royé D, Indermitte E, Lavigne E, Mayvaneh F, Acquaotta F, de'Donato F, Di Ruscio F, Sera F, Carrasco-Escobar G, Kan H, Orru H, Kim H, Holobaca IH, Kyselý J, Madureira J, Schwartz J, Jaakkola JJK, Katsouyanni K, Hurtado Diaz M, Ragettli MS, Hashizume M, Pascal M, de Sousa Zanotti Stagliorio Coélho M, Valdés Ortega N, Ryti N, Scovronick N, Michelozzi P, Matus Correa P, Goodman P, Nascimento Saldiva PH, Abrutzky R, Osorio S, Rao S, Fratianni S, Dang TN, Colistro V, Huber V, Lee W, Seposo X, Honda Y, Guo YL, Bell ML, Li S. Global, regional, and national burden of mortality associated with non-optimal ambient temperatures from 2000 to 2019: a three-stage modelling study. Lancet Planet Health. 2021;5(7):e415-e425. DOI: 10.1016/S2542-5196(21)00081-4[2] Forschungsdatenzentrum des Statistischen Bundesamtes. Todesursachen. Available from: https://www.forschungsdatenzentrum.de/de/gesundheit/todesursachen
[3] Buchholz U, Buda S, Lehfeld AS, Loenenbach A, Prahm K, Preuß U, et al. GrippeWeb – Daten des Wochenberichts [Dataset]. Zenodo; 2025. DOI: 10.5281/zenodo.15055524
[4] Robert Koch-Institut. COVID-19-Todesfälle in Deutschland [Dataset]. Zenodo; 2025. DOI: 10.5281/zenodo.15087214
[5] Deutscher Wetterdienst. Gefühlte Temperatur, Schwüle und Wind Chill. Available from: https://www.dwd.de/DE/service/lexikon/begriffe/G/Gefuehlte_Temperatur_.pdf



