70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
Validität der Sepsisidentifikation auf Basis klinischer Routinedaten: Ergebnisse einer monozentrischen Pilotstudie
2Institut für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany
3Department of Anesthesiology, Montefiore Medical Center, New York, United States
Text
Einleitung: Obwohl Sepsis eine akute lebensgefährliche Organdysfunktion ist [1], wird sie häufig zu spät erkannt und nicht adäquat behandelt. Der G-BA führt darum ab 2026 ein Qualitätssicherungsverfahren (QSV) zur Sepsis ein [2]. Entscheidend für die Validität dieses QSV ist die korrekte Identifikation von Sepsisfällen (sog. QS-Filter). Studien belegen jedoch, dass dies auf Basis der ICD-Kodierung, wie im QSV vorgesehen, nur mit geringer Präzision funktioniert [3].
In den USA verwenden die Centers for Disease Control and Prevention einen Algorithmus zur indirekten Sepsisidentifikation mittels klinischer Daten („Adult Sepsis Event“ – ASE), der eine bessere Eignung zeigte als ICD-Codes [4]. Bisher wurde die Validität und Umsetzbarkeit dieser Methodik für Deutschland noch nicht untersucht.
Methodik: Es wurde eine monozentrische Pilotstudie zur Validierung des ASE am Universitätsklinikum Jena durchgeführt. Abrechnungsdaten wurden durch das Datenintegrationszentrum (DIZ) bereitgestellt. Hieraus wurden 240 Behandlungsfälle des Jahres 2023 in einem disproportional geschichteten Zufallssample ausgewählt (50% mit Sepsiscodes, 25% mit sonstigen Infektionscodes, 25% ohne Infektionscodes). Sepsisfälle wurden durch einen Intensivmediziner durch Sichtung der Fallakten identifiziert (Referenzstandard). Das Vorliegen des ASE wurde ebenfalls durch Aktensichtung ermittelt. ICD- und OPS-Codes wurden aus Krankenhausabrechnungsdaten exportiert.
Vergleichend wurden für die Sepsisidentifikation untersucht: ASE (Blutkulturabnahme UND [Beginn Antibiotikatherapie UND ODF innerhalb ± 2 Tagen]), Sepsiscodes (ICD-Codes für Sepsis) und der QS-Filter (Sepsiscodes UND [ICD-Codes ODER OPS-Codes für Organdysfunktionen]).
Sensitivität, Spezifität, PPV und NPV wurden mittels Survey-Methoden für komplexe Stichproben berechnet. Subgruppenanalysen erfolgten für Fälle mit vs. ohne Intensivbehandlung.
Ergebnisse: Für 230 der 240 Fälle konnten alle relevanten Informationen in Fallakten identifiziert werden. Hochgerechnet auf alle Behandlungsfälle lag die Inzidenz der Sepsis bei 5,3% [95% CI 2,8%; 9,8%], die Krankenhaussterblichkeit mit Sepsis bei 21,8% [9,1%; 43,9%]. Im Vergleich zu Code-basierten Methoden zeigte der ASE höhere Sensitivität (ASE: 50,6% [95% CI: 23,8%; 77%], Sepsiscodes: 21,8% [11,2%; 38%], QS-Filter: 19,9% [10,2%; 35%]) aber niedrigeren PPV (79,8% [49,4%; 94,1%], 95,3% [91%; 97,6%], 96,5% [92,3%; 98,5%]). Alle Methoden unterschätzten die Inzidenz (ASE: 3,3% [1,7%; 6,3%], Sepsiscodes: 1,2% [0,8%; 1,8%], QS-Filter: 1,1% [ 0,7%; 1,6%]) und überschätzten die Sterblichkeit (33,8% [14,6%; 60,5%], 43,5% [32,4%; 55,2%], 46,1% [34,1%; 58,6%]). In der Subgruppe der intensivmedizinisch behandelten Fälle fiel die Sensitivität des ASE höher aus, der PPV jedoch geringer als bei Nicht-Intensiv-Fällen (Sensitivität: 74,9% [34,5%; 94,4%] vs. 41,4% [13,1%; 76,8%], PPV 63,4% [28,5%; 88,3%] vs. 96,9% [84,9%; 99,4%]).
Diskussion: Für den QS-Filter bestätigte sich die unzureichende Sensitivität [3]. Die Sensitivität des ASE fiel in dieser Pilotstudie geringer aus als in der amerikanischen Entwicklungsstudie (Sensitivität: 69,7% [52,9, 92,0%], PPV: 70,4% [64,0, 76,8%], [4]). Dies mag sich durch eine geringere Erhebungs- und Dokumentationsrate der Kriterien des ASE insbesondere im Normalstationsbereich erklären. Die Ergebnisse dieser Pilotstudie sind durch die aufgrund der Stichprobenmethodik und –größe breiten Konfidenzintervalle limitiert,
Schlussfolgerung: Für den Erfolg des kommenden Sepsis-QSV sind Maßnahmen zur Verbesserung der Sepsiskodierung essentiell. Methoden im Stile des ASE sind vielversprechend, müssen jedoch in der geplanten multizentrischen Validierungsstudie noch weiter evaluiert werden. Die Pilotstudie bietet hierfür Informationen für die Planung eines effizienteren Stichprobendesigns. Die Umsetzbarkeit des ASE wird derzeit in einer multizentrischen Abfrage über das Forschungsdatenportal für Gesundheit erprobt [5].
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.
Literatur
[1] Singer M, Deutschman CS, Seymour CW, Shankar-Hari M, Annane D, Bauer M, et al. The Third International Consensus Definitions for Sepsis and Septic Shock (Sepsis-3). JAMA - J Am Med Assoc. 2016;315(8):801-10. DOI: 10.1001/jama.2016.0287[2] IQTIG – Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Qualitätssicherungsverfahren „Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Sepsis“ - Machbarkeitsprüfung - Indikatorenset V2.1. 2024 [Accessed 25. April 2024]. Available from: https://iqtig.org/veroeffentlichungen/abschlussbericht-sepsis/
[3] Schwarzkopf D, Rose N, Fleischmann-Struzek C, Boden B, Dorow H, Edel A, et al. Understanding the biases to sepsis surveillance and quality assurance caused by inaccurate coding in administrative health data. Infection. 2024;52(2):413-27. DOI: 10.1007/s15010-023-02091-y
[4] Rhee C, Dantes R, Epstein L, Murphy DJ, Seymour CW, Iwashyna TJ, et al. Incidence and trends of sepsis in US hospitals using clinical vs claims data, 2009-2014. JAMA - J Am Med Assoc. 2017;318(13):1241-9. DOI: 10.1001/jama.2017.13836
[5] Schwarzkopf D. Datennutzungsprojekt: Nutzbarkeit der Daten der Medizininformatik-Initiative für Epidemiologie und Qualitätssicherung der Sepsis. [Accessed 25. April 2024]. Available from: https://forschen-fuer-gesundheit.de/fdpgx-project/nutzbarkeit-der-daten-der-medizininformatik-initiative-fuer-epidemiologie-und-qualitaetssicherung-der-sepsis/



