Künstliche Intelligenz: Die digitale Zukunft in der Pflege gestalten. 9. Fachtagung Technik – Ethik – Gesundheit
Künstliche Intelligenz: Die digitale Zukunft in der Pflege gestalten. 9. Fachtagung Technik – Ethik – Gesundheit
Real Labor-Studie zu Stressfaktoren bei Pflegekräften im stationären Einsatz: Monozentrische Langzeit-Erfassung von Vitaldaten und digitalen Fragebögen
2Korian Deutschland, Karlsfeld, Deutschland
Text
Einleitung & Motivation
Die fachgerechte Versorgung von Pflegebedürftigen in Zukunft sicherzustellen, ist eine der größten sozialen Herausforderungen der 2030er-Jahre und darüber hinaus. Aktuell stellt das Pflegepersonal die knappste Ressource in der pflegerischen Versorgung dar. Aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland wird die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden Jahren ansteigen, während die Zahl der Menschen im erwerbstätigen Alter abnimmt. Dies wird den bereits bestehenden Mangel an Pflegekräften weiter verschärfen.
Im Kontext des Forschungsprojekts „Pflege 2030“ (gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention) wird am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS in Erlangen untersucht, wie und wo Stress bei Pflegekräften entsteht, sowie wie dieser bestmöglich erfasst und bewertet werden kann. Ziel ist es, die Belastung frühzeitig zu erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten [1].
Material & Methoden
Im Rahmen einer gemeinsamen Anforderungsanalyse durch Mitarbeitende des Fraunhofer IIS und vom Haus Curanum in Karlsfeld wurde definiert, dass zur Ermittlung der Belastung während der Arbeitszeit n = 24 Pflegekräfte mit einem tragbaren Sensor-Brustgurt (Fa. Polar) zur Erfassung von Herzrate und Herzratenvariabilität ausgestattet werden. Ziel des Experiments war es, ein möglichst objektives, physiologisches Stressmaß auf der Basis eines tragbaren Sensors (sog. „Wearable“) aufzuzeichnen. Zudem soll die subjektiv wahrgenommene Belastung über sog. PROMs (engl. „patient-reported outcome measures“) mittels digitaler Fragebögen über eine App erfasst werden. Das eingesetzte Wearable soll dabei die pflegerischen Tätigkeiten nicht beeinflussen oder stören, und zudem einfach anzulegen sowie leicht zu reinigen sein.
Für die Erhebung der Daten wurden alle Probandinnen bzw. Probanden mit einem Smartphone (Samsung Galaxy A34) und einer eigens entwickelten App ausgestattet. Die App dient sowohl der drahtlosen Erfassung der Vitaldaten vom Brustgurt als auch der Dokumentation der zugehörigen pflegerischen Tätigkeiten sowie zur subjektiven Bewertung der bei den Tätigkeiten empfundenen Belastungen auf einer Skala von „0“ (kein Stress) bis „8“ (sehr viel Stress). Die App unterstützt derzeit vier Sprachen: Deutsch, Englisch, Polnisch und Kroatisch.
Alle erfassten Daten (Vitaldaten, Tätigkeiten, Befindlichkeiten) werden zunächst verschlüsselt auf dem Mobiltelefon gespeichert. Sobald eine WLAN-Verbindung besteht, werden sie sicher (verschlüsselt) an einen Cloud-Server des Fraunhofer IIS übermittelt. Aus Sicht des Fraunhofer IIS sind alle Daten immer vollkommen anonym. Für die Studie wurde zur Erfassung, Speicherung und Verarbeitung dieser Daten ein Ethikvotum der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingeholt.
Die Arbeitstage, an denen Messungen stattfinden, werden anhand einer gewichteten Zufallsverteilung ausgewählt, die besondere Ereignisse (wie z.B. die Einführung einer neuen Technologie zur Unterstützung in der Pflege) mit häufigeren Messungen berücksichtigt. Die mittlere Wahrscheinlichkeit, dass an einem Arbeitstag eine Messung durchgeführt wird, beträgt ca. 25%. Die typische Dauer einer Einzelmessung einer bestimmten Tätigkeit beträgt etwa 30 Minuten und orientiert sich an den durchgeführten Tätigkeiten. Weitere Einflüsse auf die Belastungssituation, wie Krankheits- und Urlaubstage, werden in der Form eines Kalenders pseudonymisiert festgehalten.
Die Messungen laufen seit Januar 2024 und sind in diesem Umfang bisher einmalig in Deutschland. Ziel der Studie ist es, zu untersuchen, wie äußere Einflüsse die individuelle Belastung beeinflussen können und ob die Einführung neuer Technologien, wie etwa einer mobilen Dokumentation oder digitaler Medikamentierungspläne [2] geeignet sind, die Belastung im Pflegealltag zu mildern.
Die Auswertung der Daten erfolgt durch die Modellierung der individuellen Belastung als ein mehrdimensionaler Ornstein-Uhlenbeck-Prozess [3] in Form einer stochastischen Differentialgleichung. Dieser zeitkontinuierliche stochastische Prozess beschreibt die Dynamik der gemessenen Variablen durch eine lineare Kombination von deterministischen und stochastischen Faktoren D und S. Zusätzliche Hintergrundeinflüsse, wie bspw. Krankheits- und Urlaubstage, lassen sich durch ihren Einfluss auf das Gleichgewichtsniveau modellieren. Eine Anpassung der Modellparameter an die erhobenen Daten ermöglicht es diese zu analysieren, indem die so gefundenen Werte interpretiert werden. Für endliche Zeitschritte geht dieses Modell in einen aus der Regelungstechnik bekannten Kalman-Filter über, was es ermöglicht, für die Inferenz auf entsprechende Algorithmen zurückzugreifen.
Ergebnisse
Der stochastische Teil S des Modells erklärt Änderungen in der Belastung individueller Pflegekräfte durch einen sog. „random walk“. Dabei sind die Inkremente der verschiedenen Stressmaße nicht unabhängig voneinander, sondern unterliegen einer konstanten Kovarianz-Matrix. Abbildung 1 [Abb. 1] zeigt die ermittelten Korrelationskoeffizienten. Die Matrix ist aufgrund ihrer mathematischen Definition symmetrisch und besitzt entlang der Hauptdiagonalen den Wert 1. Die ersten zwölf Einträge der Zeilen und Spalten repräsentieren dabei die subjektive Belastung, die durch die Probanden bei den pflegerischen Tätigkeiten angegeben wurden. Die letzten beiden Einträge entsprechen den objektiven, physiologischen Belastungsmaße, die von dem Brustgurt abgeleitet wurden, d.h. die logarithmische Herzrate und Herzratenvariabilität.
Abbildung 1: Korrelationsmatrix
Aus der Matrix kann beobachtet werden, dass die Änderungen in der subjektiven Belastung stark positiv miteinander korrelieren, ebenso wie mit der logarithmischen Herzrate. Die logarithmische Herzratenvariabilität hingegen zeigt fast immer eine Antikorrelation. Das umgekehrte Vorzeichen ist hier zu erwarten, da die Herzratenvariabilität bei Belastung niedriger ist und somit gewissermaßen ein umgekehrtes Stressmaß darstellt [4]. Die Struktur dieser Matrix zeigt, dass sich die verschiedenen Stressmaße gemeinsam ändern, was auf eine zugrunde liegende latente Belastungsvariable hinweist.
Der deterministische Teil D der Dynamik wird ebenfalls durch eine Matrix beschrieben, vgl. Abbildung 2 [Abb. 2]. Die Zeilen der Driftmatrix D zeigen, wie sich die verschiedenen aktuellen Werte auf die Änderungsraten der einzelnen Stressmaße auswirken. Die Einträge besitzen die Dimension von reziproker Zeit und beschreiben, wie schnell ein Belastungsmaß aufgrund von dem aktuellen Wert aller andern zu- oder abnimmt.
Die Diagonale der Matrix D repräsentiert die Selbstinteraktion eines Belastungsindex. Um langfristig stabile Dynamiken zu gewährleisten und unendliche Werte zu vermeiden, müssen diese Einträge alle negativ sein. Sie beschreiben die Rate, mit der eine Abweichung vom Mittelwert abgebaut wird. Die typische Zeitskala für die Rückkehr zum langfristigen Durchschnitt beträgt i.d.R. zwei bis fünf Tage.
Von besonderem Interesse ist die Asymmetrie des Einflusses der physiologischen auf die subjektiven Variablen im Vergleich zur umgekehrten Richtung. Der Matrixblock, der die Änderungen der logarithmischen Herzrate und Herzratenvariabilität aufgrund der aktuellen subjektiven Belastungswerte beschreibt, ist praktisch null. Umgekehrt zeigt das Modell, dass die aktuellen objektiven Belastungsmaße Prädiktoren für die zukünftigen subjektiven Belastungen sind.
Diskussion
Mit den durchgeführten Messungen sind wir in der Lage, die subjektiv und objektiv wahrgenommene Belastung des Pflegepersonals während ihrer Arbeit und den vielfältigen Tätigkeiten zu beobachten. Es wurde gezeigt, dass die Änderungen der subjektiven und objektiven Belastungsmaße miteinander korrelieren, was auf eine gemeinsame zugrunde liegende Belastungsvariable hindeutet.
Vorläufige Ergebnisse der Hintergrundeinflüsse zeigen, dass der Einfluss von Krankentagen sich – wie erwartet – negativ auf die Belastung auswirkt. Den Einfluss neuer Technologien auf die Belastung in der Pflege konnten wir jedoch noch nicht feststellen. Mögliche Ursachen hierfür sind, dass einzelne Technologien zu selten verwendet werden, um im Alltag signifikante Verbesserungen zu bewirken, oder dass sie nicht ausreichend integriert sind, um spürbare Effekte zu erzielen.
Der von uns gefundene Zusammenhang, dass der messbare körperliche Zustand der Pflegekräfte die kommende subjektiv empfundene Belastung vorhersagt, weist auf die Möglichkeit hin, dass physiologische Messungen wertvolle Indikatoren für das Wohlbefinden im Pflegealltag darstellen.
References
[1] Scharfenberg E, Sassen S, Rothgang H, Wittenberg T. Das Modellprojekt „Pflege 2030“ - in Echtzeit. Pflegezeitschrift. 2023;76(4):10-13. DOI: 10.1007/s41906-023-2026-5[2] Arndt M, Simon M, Schmitt-Rüth S, Schoeneich S, Landgraf K, Jantsch H, Baumgärtner V, Scharfenberg E, Sassen S, Wittenberg T. Needs-Based Selection and Prioritization of Technologies to Aid and Assist Nursing Staff in Inpatient Care of Elderly. Current Directions in Biomedical Engineering. 2024;10(4):41-44. DOI: 10.1515/cdbme-2024-2010
[3] Singh R, Ghosh D, Adhikari R. Fast Bayesian Inference of the Multivariate Ornstein-Uhlenbeck Process. Physical Review E. 2018;98(1):012136. DOI: 10.1103/PhysRevE.98.012136
[4] Kim HG, Cheon EJ, Bai DS, Lee YH, Koo BH. Stress and Heart Rate Variability: A Meta-Analysis and Review of the Literature. Psychiatry Investigation. 2018;15(3):235-245. DOI: 10.30773/pi.2017.08.17




