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Künstliche Intelligenz: Die digitale Zukunft in der Pflege gestalten. 9. Fachtagung Technik – Ethik – Gesundheit


20.-21.05.2025
Nuremberg


Meeting Abstract

Von der Bedarfsanalyse zur Nutzerakzeptanz – ein integrierter Ansatz zur Auswahl und Evaluation unterstützender Technologien in stationären Pflegeeinrichtungen

1Fraunhofer IIS, Erlangen, Deutschland
2Korian Deutschland, Karlsfeld, Deutschland
3Korian Stiftung, München, Deutschland

Text

Einleitung & Motivation

Eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden dreißig Jahre besteht darin, die professionelle Pflege und Versorgung in Pflegeeinrichtungen sicherzustellen. Aufgrund des demografischen Wandels nimmt die Zahl älterer, pflegebedürftiger Menschen kontinuierlich zu, während gleichzeitig ein signifikanter Bedarf an qualifiziertem Pflegepersonal besteht [1]. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Diskrepanz weiter verschärfen wird. Infolge dieser Entwicklung geraten nicht nur die Versorgungsqualität, sondern auch das Wohlbefinden und die Belastbarkeit des verbleibenden Pflegepersonals zunehmend unter Druck.

Vor diesem Hintergrund rücken technologische Lösungen verstärkt in den Fokus pflegewissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Debatten. Zwar können technische Systeme den Personalmangel nicht vollständig kompensieren, doch sie bergen das Potenzial, einige Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten und Pflegekräfte in ihrer täglichen Arbeit gezielt zu entlasten [2], [3]. Damit verbunden ist jedoch die Herausforderung, Technologien nicht nur in den Einrichtungen verfügbar zu machen, sondern sie auch in die komplexen organisatorischen, ethischen und sozialen Strukturen von Pflegeeinrichtungen zu integrieren – ein Prozess, der maßgeblich von der Akzeptanz durch das Pflegepersonal abhängt.

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt Pflege 2030 adressiert diese Problematik mit mehreren Teilvorhaben [2]. In Teilprojekt A wird ein neues Personalbemessungsverfahren entwickelt, während Teilprojekt B die bedarfsgerechte Einführung unterstützender Technologien in einer stationären Pflegeeinrichtung verfolgt. Die zentrale Zielsetzung besteht darin, durch geeignete technologische Maßnahmen zur Reduktion der Arbeitsbelastung beizutragen und gleichzeitig die Pflegequalität zu sichern.

Material & Methoden

Der untersuchte Ansatz basiert auf Erkenntnissen aus der Forschung zur Technikakzeptanz [4] und verfolgt eine nutzerzentrierte sowie bedarfsorientierte Perspektive. Neben qualitativen Methoden zur Anforderungsanalyse und Technologieauswahl kam auch ein quantitatives Design zur Anwendung, um mögliche Einflussfaktoren auf die Akzeptanz technologischer Lösungen systematisch zu untersuchen.

Anforderungsanalyse

Die Anforderungsanalyse wurde nutzerzentriert im Rahmen eines Workshops mit n=23 Pflegekräften der Einrichtung „Haus Curanum Karlsfeld“ durchgeführt. Ziel des Workshops war es, konkrete Herausforderungen und Bedürfnisse des Pflegepersonals zu ermitteln. Diese wurden strukturiert anhand der Pflegefunktionsbereiche „körperliche Aufgaben“, „soziale & emotionale Aufgaben“, „Monitoring“, „Dokumentation“ sowie „Arbeitsorganisation & -kommunikation“ erfasst. Zusätzlich wurden verschiedene Technologien identifiziert, die geeignet sind, das Pflegepersonal bei täglichen Arbeitsabläufen zu unterstützen und gleichzeitig die Versorgungsqualität für Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern.

Kategorisierung

Für die systematische Kategorisierung der Technologien wurde auf ein etabliertes Kategorisierungsschema [5], [6] zurückgegriffen. Dieses Schema basiert auf einer 2D-Matrix, bei der auf der 1. Achse die o.g. Pflegefunktionsbereiche und auf der 2. Achse Technologiearten (Informations- & Kommunikations-Roboter-, Sensortechnologien) abgebildet sind [5], [6], vgl. Abbildung 1 [Abb. 1]. Durch die Anwendung dieses Schemas konnten zuvor identifizierte Bedürfnisse und Herausforderungen zielgerichtet mit passenden Technologien verknüpft werden.

Abbildung 1

Priorisierung

Zur Priorisierung der Technologien erfolgte eine Bewertung durch ein interdisziplinäres Exper-tengremium, bestehend aus insgesamt n=9 Mitgliedern. Neben Vertreterinnen und Vertretern der Pflegeeinrichtung „Haus Curanum Karlsfeld“ nahmen auch externe Experten aus den Bereichen Wissenschaft und Technik teil.

Jedes Gremiumsmitglied bewertete die Technologien auf Grundlage vordefinierter Kriterien [5], [6], die zuvor im Rahmen der Anforderungsanalyse erhoben wurden. Bewertet wurden Kriterien auf drei Dimensionen: (1) Technologische Dimension (Funktionalität, Benutzerfreundlichkeit, Interoperabilität, Zuverlässigkeit & Wartung, Datenschutz, Kosten), (2) Sozio-ethische Dimension (ethische & moralische Standards, Barrierefreiheit, kulturelle & ethnische Sensitivität) und (3) Organisatorische Dimension (Übereinstimmung mit den Zielen der Einrichtung, Entlastung des Pflegepersonals, Rahmenbedingungen, Akzeptanz & Unterstützung durch relevante Stakeholder).

Die Bewertung erfolgte mittels einer sechsstufigen Skala (1 = trifft überhaupt nicht zu bis 6 = trifft vollständig zu). Für die Priorisierung wurde ein Schwellenwert von 59 Punkten (entspricht 75% der maximal möglichen Punktzahl) festgelegt. Auf dieser Basis entstand eine finale Rangfolge der Technologien.

Die Priorisierung ergab folgendes: Die „Mobile Pflegedokumentation“ erzielte mit 74 Punkten die höchste Bewertung, gefolgt vom „Digitalen Medikamentenmanagement“ (71 Punkte) und „Sprachbasierte Pflegedokumentation“ (69 Punkte). Weitere Technologien, die zur Implementierung ausgewählt wurden, sind „Sturzerkennung“ (68 Punkte), „Nachtlichtsensoren“ (66 Punkte), ein „Digitales Planungs- & Kommunikationstool“ (66 Punkte), „Digitale Wunddokumentation“ (64 Punkte), „Digitale Aktivitätsspiele“ (64 Punkte), „Digitale Inkontinenzprodukte“ (63 Punkte), „Reinigungsroboter“ (61 Punkte) sowie „Dreh- & höhenverstellbare Toiletten“ (60 Punkte).

Quantitative Baseline-Datenerhebung

Zusätzlich zur Technologieauswahl und Priorisierung wird eine quantitative, längsschnittliche Begleitstudie durchgeführt, die die Nutzerakzeptanz und die Auswirkungen des Technologieeinsatzes auf die Pflegekräfte empirisch untersucht. Im Rahmen dieser Studie werden soziodemo-grafische (z.B. Alter, Geschlecht, Bildung), psychologische (z.B. Interesse, Neugierde, Technologieängstlichkeit bzw. -skepsis, Selbstwirksamkeit im Umgang mit Technik), technologie-spezifische (z.B. wahrgenommene Nützlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Zugänglichkeit, positive & negative Einstellung) sowie arbeitsplatzbezogene Faktoren (z.B. Arbeitsbelastung, Rollenkonflikte, Rollenambiguität, Job-Komplexität, emotionale Arbeitsanforderungen, Arbeitszufriedenheit, subjektiver Stress) erfasst, um potenzielle Einflussfaktoren auf die Akzeptanz von Technologien identifizieren zu können.

Diese Begleitstudie umfasst eine Gesamterhebung sowie technologiespezifische Erhebungen. Die Gesamterhebung bezieht sich auf alle im Projekt eingeführten Technologien und besteht aus 2 Messzeitpunkten: einer Baseline-Erhebung (T0), die 11/ 2023 als Online-Umfrage über die Online-Plattform LimeSurvey 4 Wochen vor der Technologieeinführung durchgeführt wurde und einer Post-Messung (T2), die 10/ 2025 nach vollständiger Implementierung aller Technologien geplant ist. Zusätzlich werden technologiespezifische Erhebungen (T1) im Prä-Post-Design durchgeführt, um eine differenziertere Analyse der Auswirkungen jeder einzelnen Technologie zu ermöglichen.

Die erforderlichen ethischen Rahmenbedingungen wurden durch die Ethikkommission der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg geprüft und genehmigt.

Ergebnisse

Neben der Priorisierung und Auswahl geeigneter Technologien wurden in der quantitativen Baseline-Erhebung (n=63 Mitarbeitende des Hauses Curanum Karlsfeld) mögliche Einflussfaktoren auf die Akzeptanz und Nutzungsabsicht der ausgewählten Technologien untersucht. Erste Ergebnisse zeigten, dass insbesondere psychologische und technologiespezifische Faktoren signifikant mit der Nutzungsabsicht (Intention to Use, ITU) zusammenhängen:

Bei den psychologischen Faktoren korreliert die ITU besonders stark mit Neugierde (r(56) =.692, p<.001), gefolgt von Interesse an Technologien (r(55)=.428, p=.001) und der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit im Umgang mit Technik (r(51) =.317, p=.024). Hingegen zeigte sich eine starke negative Korrelation zur Technologieängstlichkeit (r(57)=-.518, p<.001).

Bei den technologiespezifischen Faktoren bestehen besonders starke positive Korrelationen zwischen der ITU und der wahrgenommenen Nützlichkeit (r(53)=.736, p<.001) sowie der Benutzerfreundlichkeit (r(57)=.591, p<.001). Im Gegensatz dazu zeigte Technologieskepsis erwartungsgemäß einen negativen Zusammenhang (r(54)=-.483, p<.001). Faktoren wie positive Einstellung (r(54)=.348, p=.01) und negative Einstellung gegenüber Technologien (r(51)=-.406, p =.003) wiesen ebenfalls relevante, aber geringere Zusammenhänge auf.

Im Bereich arbeitsplatzbezogener Faktoren wurden keine signifikanten Zusammenhänge mit der Nutzungsintention festgestellt. Sowohl die subjektive Arbeitsbelastung (r(53)=-.175, p=.211), als auch Faktoren wie Rollenkonflikte (r(50)=-.221, p=.124), Rollenambiguität (r(51)= -.145, p=.31), Job-Komplexität (r(48)=.258, p=.077), emotionale Arbeit (r(44)=.236, p=.122) und subjektiver Stress (r(56)=-.073, p=.592) zeigten keine statistisch relevanten Effekte. Lediglich die allgemeine Arbeitszufriedenheit näherte sich der Signifikanzschwelle mit einem moderat positiven Zusammenhang (r=.257, p=.052).

Darüber hinaus konnten soziodemografische Variablen (Alter, Geschlecht, höchster Bildungsabschluss) nicht als bedeutsame potenzielle Einflussfaktoren auf die Intention zur Nutzung identifiziert werden. Weder Alter (r(54) = -.002, p=.990), Geschlecht (r(57)=-.001, p=.992) noch Bildungshintergrund (rS(55) = .077, p=.576) zeigten statistisch signifikante Zusammenhänge mit der Nutzungsabsicht von Technologien.

Zusammenfassend deuten die Ergebnisse der T0-Erhebung darauf hin, dass insbesondere psychologische und technologiebezogene Faktoren entscheidend für die Akzeptanz und spätere Nutzung der implementierten Technologien sein könnten, während arbeitsplatzbezogene und soziodemografische Faktoren in der vorliegenden Stichprobe weniger relevant erscheinen. Aussagen über tatsächliche Einflussgrößen und deren Kausalität lassen sich jedoch erst nach Durchführung der geplanten Post-Messung treffen.

Diskussion

In der ersten Projektphase wurden geeignete Technologien zur Unterstützung des Pflegepersonals erfolgreich identifiziert, kategorisiert und priorisiert. Der vorgestellte systematische Ansatz ermöglicht es, gezielt Technologien auszuwählen, die spezifischen Anforderungen und Bedürfnissen einer Pflegeeinrichtung entsprechen [5], [6].

Zusätzlich zur Auswahl, Kategorisierung und Priorisierung geeigneter Pflegetechnologien bietet die begleitende quantitative Studie wichtige empirische Einblicke in die Faktoren, die die Akzeptanz und Nutzung dieser Technologien durch Pflegekräfte beeinflussen könnten. Die Ergebnisse der T0-Erhebung verdeutlichen die Relevanz psychologischer Aspekte wie Neugierde, Interesse und wahrgenommene Selbstwirksamkeit sowie technologiespezifischer Faktoren wie Nützlichkeit und Benutzerfreundlichkeit. Demgegenüber scheinen arbeitsplatzbezogene und soziodemografische Faktoren weniger entscheidend zu sein.

Diese Erkenntnisse ermöglichen es, frühzeitig spezifische Maßnahmen abzuleiten, um potenzielle Barrieren in der Akzeptanz und Nutzung zu adressieren. Im weiteren Projektverlauf erfolgt eine vertiefte Evaluation nach vollständiger Implementierung aller Technologien. Dabei werden nicht nur Veränderungen hinsichtlich der Technikakzeptanz, Arbeitszufriedenheit und Entlastung untersucht, sondern auch der tatsächliche Einfluss der zuvor identifizierten Faktoren auf diese Veränderungen evaluiert. Die geplante Kombination aus Gesamterhebung (Prä-Post-Messung) und zusätzlichen technologiespezifischen Messungen ermöglicht zudem differenzierte Aussagen zu den einzelnen Technologien und trägt dazu bei, weitere Empfehlungen für die nachhaltige Implementierung unterstützender Technologien in der stationären Pflegepraxis abzuleiten.

Förderung

Das Projekt Pflege2030 wird gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit & Pflege.


References

[1] ;Bundesministerium für Gesundheit. Pflege in Deutschland: Pflegestatistik 2019. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/_publikationen-innen-pflegestatistik-deutschland-ergebnisse.html
[2] Scharfenberg E, Sassen S, Rothgang H, Wittenberg T. Das Modellprojekt Pflege 2030 - in Echtzeit. Pflegezeitschrift. 2023;76:10-13. DOI: 10.1007/s41906-023-2026-5
[3] Rösler U, Schmidt K, Merda M, Melzer M. Digitalisierung in der Pflege. Wie intelligente Technologien die Arbeit professioneller Pflegender verändern. Berlin: Initiative Neue Qualität der Arbeit INQA; 2018.
[4] Güsken SR, Frings K, Zafar F, Saltan T, Fuchs-Frohnhofen P, Bitter-Krahe J. Einflussfaktoren auf die Nutzungsintention von Pflegekräften zur Verwendung digitaler Technologien in der ambulanten Pflege - Fallstudie zur Einführung eines Sensortextils. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft. 2021;75(4):470-490. DOI: 10.1007/s41449-021-00277-4
[5] Arndt M, Simon M, Schmitt-Rüth S, Wittenberg T. How to release the potential of technology for the future of work in inpatient care of elderly? – Validation of a new employee centered technology selection process. In: 33rd RESER International Conference; 2023 Dec 7-9; Sierre, Switzerland. p. 105-109.
[6] Arndt M, Simon M, Schmitt-Rüth S, Schoeneich S, Landgraf K, Jantsch H, Baumgärtner V, Scharfenberg E, Sassen S, Wittenberg T. Needs-based selection and prioritization of Technologies to Aid and Assist Nursing Staff in Inpatient Care of Elderly. Current Directions in Biomedical Engineering. 2024;10(4):41-44. DOI: 10.1515/cdbme-2024-2010