70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
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Chancen und Hürden bei der Implementierung einer Digital Health-Anwendung in die neurologische Praxis
2Leipzig University Medical Center, Department of Neurology, Leipzig, Germany
3Institut für Digitale Technologien gGmbH, Leipzig, Germany
Text
Einleitung: Für ärztliches Personal ist das Erkennen seltener Erkrankungen oft herausfordernd, was zu erheblichen Verzögerungen bei Überweisungen an spezialisierte Zentren und der Diagnosestellung führen kann [1]. Zur Unterstützung wurde am Beispiel der Leukodystrophien die LeukoExpert-Adviser App als digitales Lotsensystem entwickelt [2]. Damit Digital-Health-Anwendungen ihr Potenzial in der Patientenversorgung entfalten können, sind Strategien zur nachhaltigen Integration in den Praxisalltag erforderlich. Das Einführen medizinischer Innovationen in die Routineversorgung dauert im Schnitt 17 bis 20 Jahre und erreicht nur selten breite Anwendung [3]. Ziel der nachfolgenden Studie ist es, die Einführung des LeukoExpert-Advisers in ein Praxisnetzwerk mit sechs Standorten wissenschaftlich zu begleiten, Erfolgsfaktoren und Barrieren zu identifizieren und so die Implementierung innovativer Technologien in der Primärversorgung zu fördern.
Methoden: Im Vorfeld wurden rechtliche, technische und organisatorische Rahmenbedingungen für die Eingliederung der App in den Partnerpraxen geklärt. Mittels Feedbackrunden und Fragebögen wurde mit der Nutzergruppe der App, Neurologinnen und Neurologen eines mitteldeutschen Praxisverbunds, eine Anforderungsanalyse durchgeführt. Bereits vor Beginn der Nutzungsphase wurden Änderungen an der App vorgenommen, damit sie sich optimal in die Arbeitsprozesse der Praxen einfügt und einen Mehrwert bietet. Zu Beginn der Implementierung wurden die Ärztinnen und Ärzte zu ihrem ersten Eindruck der Funktionen, Benutzerfreundlichkeit und visuellen Ästhetik der App als auch zu ihrer Technikaffinität befragt. Der Implementierungszeitraum umfasst etwa 3,5 Monate. Eine Abschlussbefragung und die Auswertung aufgenommener Nutzungsparameter sind für Juli 2025 geplant.
Ergebnisse: Die Vorbefragung ergab, dass das ärztliche Personal des Praxisverbunds bereit ist, durchschnittlich 3,5 Minuten für die Nutzung der App und 18 Minuten für die Einarbeitung aufzuwenden. Die Mehrheit bevorzugt eine Einführung des digitalen Lotsensystems über einen Workshop, 20% wünschen sich ein Videoformat. Insgesamt nahmen sieben der zwölf Personen aktiv an der Studie teil. Zu Beginn der Implementierungsphase wurden die visuelle Gestaltung sowie die Integration in das Praxisverwaltungssystem mehrheitlich positiv bewertet. Der voraussichtliche Zeitaufwand für die Nutzung wurde durchschnittlich auf sieben Minuten geschätzt und überstieg damit den als angemessen empfundenen Zeitrahmen. Die Technikaffinität variiert innerhalb der Anwendergruppe. In den ersten vier Wochen nach Einführung gab es keine Supportanfragen.
Diskussion: Die Einführung digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen scheitert oft weniger an der technischen Realisierbarkeit, als an organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. So musste beispielsweise die ursprünglich vorgesehene KI-gestützte Lotsenfunktion der App im Rahmen der Implementierungsstudie entfernt werden, da sie rechtliche Implikationen aufwies. Dadurch ging ein zentraler Mehrwert für die Nutzergruppe verloren. Gleichzeitig erfordert der hektische Arbeitsalltag in medizinischen Praxen, dass der Nutzen der eingeführten App den zusätzlichen Aufwand rechtfertigt. Um die Akzeptanz zu fördern, mussten daher zusätzliche Mehrwerte geschaffen werden, wenngleich das Potential einer langfristigen Arbeitsentlastung und verbesserten Patientenversorgung ein Motivationsfaktor für das Mitwirken an der experimentellen Einführung digitaler Anwendungen in die Praxis darstellt.
Schlussfolgerung: Eine erfolgreiche Implementierung erfordert einen klar erkennbaren Nutzen, eine nahtlose Integration in bestehende Systeme sowie eine enge Zusammenarbeit mit den Anwendungspartnern, um die spezifischen Bedürfnisse der Praxen zu adressieren und die langfristige Akzeptanz sicherzustellen. Das Potenzial KI-gestützter Anwendungen bleibt ungenutzt, wenn rechtliche Hürden und Zertifizierungspflichten ihren Einsatz erschweren.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.
References
[1] Faye F, Crocione C, Anido de Peña R, Bellagambi S, Escati Peñaloza L, Hunter A, et al. Time to diagnosis and determinants of diagnostic delays of people living with a rare disease: results of a Rare Barometer retrospective patient survey. Eur J Hum Genet. 2024 Sep;32(9):1116–26. DOI: 10.1038/s41431-024-01604-z[2] Bundesministerium für Gesundheit. KI-basierte Diagnoseunterstützung bei Seltenen Erkrankungen am Beispiel der Seltenen Erkrankung Leukodystrophie (Leuko-Expert). Bonn: Bundesministerium für Gesundheit; [updated 2024 Feb 10; cited 2025 Apr 10]. Available from: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/ressortforschung/handlungsfelder/forschungsschwerpunkte/digitale-innovation/modul-3-smarte-algorithmen-und-expertensysteme/leuko-expert.html
[3] Bauer MS, Kirchner J. Implementation science: What is it and why should I care? Psychiatry Res. 2020 Jan;283:112376. DOI: 10.1016/j.psychres.2019.04.025



