70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V.
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Partizipative Technikgestaltung im Alter: Nutzerzentrierte Anforderungsanalyse eines Notfallwarnsystems für Aging-in-Place
2artiso solutions GmbH, Blaustein, Germany
Text
Hintergrund: Der demografische Wandel geht mit einer wachsenden älteren Bevölkerung einher, wodurch das Konzept des „Aging-in-Place“ zunehmend an Bedeutung gewinnt [1]. Dabei sollen technische Assistenzsysteme älteren Menschen ein selbstbestimmtes autonomes Leben im eigenen Zuhause ermöglichen und zugleich soziale Teilhabe sowie emotionales Wohlbefinden unterstützen [2]. Dennoch entstehen durch das Verbleiben im häuslichen Umfeld Risiken. Eine aktuelle Statistik zeigt, dass 48,5% aller tödlichen Unfälle in Deutschland im häuslichen Umfeld auftreten (n=16.388), wobei 91% dieser Fälle (n=14.874), Personen im Alter von 65 Jahren und älter betreffen [3]. Technische Notfallsysteme sind daher essenziell, stoßen aber häufig auf Akzeptanzbarrieren: Notfallarmbänder müssen dauerhaft getragen oder manuell ausgelöst werden [4], Sicherheitskameras beeinträchtigen die Privatsphäre [5], Sturzmatten wirken nur lokal. Hinzu kommen hohe Kosten und Modernisierungsmaßnahmen. Es fehlt an nutzerzentrierten Lösungen, die die heterogenen Bedürfnisse älterer Menschen und Angehöriger adressieren. Ziel dieser Studie war es, spezifische Anforderungen, Barrieren und Bedürfnisse an ein alltagstaugliches, minimalinvasives Notfallwarnsystem aus Sicht von Senior:innen, Angehörigen und Fachexpert:innen zu identifizieren.
Methodik: Von Dezember 2024 bis Februar 2025 wurden 13 semi-strukturierte Interviews mit sechs alleinlebenden Senior:innen (65–90 Jahre), zwei Angehörigen (45 und 57 Jahre) und fünf Fachexpert:innen (33–54 Jahre) durchgeführt. Neun Teilnehmende waren weiblich, vier männlich. Die transkribierten Interviews wurden mittels strukturierter Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet. Darauf aufbauend wurden acht empirisch fundierte Personas (https://www.hnu.de/forschung/forschungs-und-transfereinrichtungen/institut-digihealth/forschung/laufende-projekte/stand-bycare) mit unterschiedlichen Lebensrealitäten entwickelt, die mithilfe des Goal-directed Designs erstellt wurden. Die Konstruktion erfolgte DSGVO-konform auf Basis anonymisierter Interviewdaten.
Ergebnisse: Die Analyse zeigte ein Spannungsfeld zwischen dem Sicherheitsbedürfnis und dem Wunsch nach Autonomie. Zehn der 13 Befragten berichteten von Erfahrungen mit Notfalllösungen, die meist als störend (n=8), fehleranfällig (n=7) und unflexibel (n=6) wahrgenommen wurden. Insbesondere vier Senior:innen betonten das unangenehme Tragegefühl. Zentrale Anforderungen, die sich aus der Gesamtheit der Interviews (n=13) ergaben, bezogen sich auf eine geringe Fehleranfälligkeit (n=11), einfache Bedienbarkeit (n=9) sowie die Anpassbarkeit an individuelle Schutzbedürfnisse (n=4). Fünf Senior:innen hoben zudem die Einbindung vertrauter Bezugspersonen als besonders wichtig hervor. Die hierauf entwickelten Personas spiegeln typische Nutzerkonstellationen wider, berücksichtigen Lebenssituation, Motivation, technische Vorerfahrungen, Barrieren sowie Einstellungen zu Datenschutz und Finanzierung. Sie reichen von technikaffinen Nutzer:innen mit klaren Erwartungen bis hin zu sozial isolierten älteren Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.
Diskussion: Die Ergebnisse verdeutlichen, dass herkömmliche Lösungen häufig nicht den Anforderungen älterer Menschen und ihren Angehörigen gerecht werden. Die entwickelten Personas spiegeln diese Heterogenität wider und binden die Zielgruppen aktiv in den Entwicklungsprozess ein, indem die Bedürfnisse und Lebenskontexte systematisch erfasst und in Designentscheidungen überführt werden. Die Ergebnisse sind aufgrund der begrenzten Stichprobengröße als explorativ einzuordnen. Dennoch ermöglicht die Kombination aus multiperspektivischer Datenerhebung und systematischer Persona-Entwicklung einen innovativen Beitrag zur altersgerechten Technikgestaltung.
Schlussfolgerung: Nutzerzentrierte Notfallsysteme sind entscheidend für ein selbstbestimmtes Leben im Sinne des Aging-in-Place. Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer kontextsensitiven Technikgestaltung, die ältere Menschen nicht als homogene Zielgruppe adressiert, sondern deren vielfältige Lebensrealitäten differenziert berücksichtigt. Im Gegensatz zu technikzentrierten Ansätzen wurden auf Basis empirischer Daten realitätsnahe Personas entwickelt und in psychosoziale, funktionale sowie technische Anforderungen überführt. Auf dieser Basis sind weiterführende Schritte wie die prototypische Umsetzung sowie Usability-Studien im häuslichen Umfeld erforderlich, um die Praxistauglichkeit und Wirksamkeit entsprechender Systeme unter realen Bedingungen zu evaluieren.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.
References
[1] Genge C, McNeil H, Debergue P, Freeman S. Technology to support aging in place: key messages for policymakers and funders. Front Psychol. 2023;14:1287486. DOI: 10.3389/fpsyg.2023.1287486[2] Wiles JL, Leibing A, Guberman N, Reeve J, Allen RE. The meaning of “aging in place” to older people. Gerontologist. 2012;52(3):357-66. DOI: 10.1093/geront/gnr098
[3] Statistisches Bundesamt (Destatis). Todesursachen. Anzahl der Gestorbenen nach Unfallkategorien. Sterbefälle nach Unfallkategorien 2023. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt; 2024 [cited 2025 Apr 24]. Available from: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/sterbefaelle-unfaelle.html
[4] Heinbüchner B, Hautzinger M, Becker C, Pfeiffer K. Satisfaction and use of personal emergency response systems. Z Gerontol Geriatr. 2010;43(4):219-23. DOI: 10.1007/s00391-010-0127-4
[5] Zwijsen SA, Niemeijer AR, Hertogh CM. Ethics of using assistive technology in the care for community-dwelling older adults: an overview of the literature. Aging Ment Health. 2011;15(4):419-27. DOI: 10.1080/13607863.2010.543662



