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Künstliche Intelligenz: Die digitale Zukunft in der Pflege gestalten. 9. Fachtagung Technik – Ethik – Gesundheit


20.-21.05.2025
Nürnberg


Meeting Abstract

Erkennung von Mikrobewegungen zur Dekubitusprävention mittels KI-gestützter Sensorsysteme

1Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD, Darmstadt, Deutschland
2Katholische Hochschule Mainz, Mainz, Deutschland

Text

Einleitung & Motivation

Druckgeschwüre, auch als Dekubitus bezeichnet, zählen zu den häufigsten und folgenreichsten Komplikationen in der stationären Pflege. Besonders hochbetagte und bewegungseingeschränkte Personen sind gefährdet, obwohl etablierte Maßnahmen zur Prophylaxe existieren. Laut dem Bundesbericht des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) wurden im Jahr 2023 über 67.000 Fälle von im Krankenhaus erworbenem Dekubitus dokumentiert, was rund 0,44 % aller stationären Aufnahmen entspricht [1]. Diese Zahlen verdeutlichen, dass konventionelle Strategien allein nicht ausreichen, um das Auftreten von Dekubitus in klinischen und pflegerischen Einrichtungen wirksam zu verhindern.

Die Auswirkungen eines Dekubitus sind weitreichend. Sie reichen von lokalen Gewebeschäden und Schmerzen über eingeschränkte Mobilität bis hin zu längeren Krankenhausaufenthalten und schweren Folgeerkrankungen. Auch ökonomisch stellt Dekubitus eine erhebliche Belastung für Pflegeeinrichtungen und Gesundheitssysteme dar. Umso dringlicher ist der Einsatz neuer Technologien, die frühzeitig auf drohende Inaktivität hinweisen und gezielt präventive Maßnahmen ermöglichen.

In diesem Zusammenhang bieten tragbare Sensorsysteme wie Smartwatches neue Möglichkeiten. Durch integrierte Bewegungssensoren kann kontinuierlich erfasst werden, ob eine Person sich im Bett oder im Rollstuhl bewegt. Ergänzt durch Verfahren des maschinellen Lernens lassen sich diese Daten automatisiert auswerten und kritisch bewerten. So können etwa längere Phasen der Bewegungslosigkeit erkannt und Pflegekräfte rechtzeitig gewarnt werden.

Maschinelle Lernverfahren gelten in diesem Anwendungsbereich als besonders leistungsfähig, da sie auch feine Unterschiede in komplexen Bewegungsabläufen erkennen können. Modelle wie Random Forest haben sich in der Aktivitätserkennung als robust erwiesen [2]. Für sequenzielle, zeitlich abhängige Daten, wie sie bei Mikrobewegungen auftreten, sind rekurrente neuronale Netze, insbesondere Long Short-Term Memory (LSTM), besonders geeignet [3].

Ziel dieser Arbeit ist es, ein System zur automatisierten Erkennung dekubitusrelevanter Mikrobewegungen auf Basis einer Pixel Watch 3 zu entwickeln. Untersucht wird, inwieweit solche Geräte präzise und zuverlässig relevante Bewegungen erfassen können und wie sich verschiedene Positionen der Sensorik auf die Erkennungsgenauigkeit auswirken. Darüber hinaus soll geprüft werden, welche Modellarchitekturen sich für die Klassifikation unterschiedlicher Bewegungsmuster eignen und wie ein adaptives System zur dynamischen Risikoerkennung in der Pflegepraxis gestaltet sein könnte.

Material & Methoden

Die Datenerhebung findet im Rahmen eines kontrollierten Experiments mit insgesamt zehn freiwilligen Testpersonen statt. Die Auswahl der Bewegungen orientiert sich an pflegerischen Maßnahmen zur Druckentlastung und umfasst fünf gezielte Bewegungsformen: Beckenkippen, Hüftrotation, Oberkörperneigung, Fußbewegung und Schulterschwung. Jede der zehn Testpersonen führt jede dieser Bewegungen jeweils zwanzigmal aus, wobei jede Ausführung exakt zehn Sekunden dauert.

Um den Einfluss der Sensorposition auf die Erkennungsgenauigkeit zu analysieren, wird die Smartwatch an drei verschiedenen Körperstellen befestigt: auf der Brust, am Abdomen sowie am rechten Fußgelenk. Während der Versuchsdurchläufe werden alle Bewegungsdaten mit einer Abtastrate von 20 Hertz aufgezeichnet, also zwanzig Datenpunkten pro Sekunde.

Die Smartwatch verfügt über eine Vielzahl integrierter Sensoren, die für diese Untersuchung vollständig genutzt werden. Zum Einsatz kommen ein Beschleunigungssensor, ein Gyroskop, ein Gravitätssensor und ein Orientierungssensor, jeweils mit dreidimensionaler Achsenmessung. Ergänzend werden ein Pulssensor zur Erfassung der Herzfrequenz sowie zwei Audiosensoren zur Messung von Dezibel- und Magnitudewerten eingebunden. Dadurch entstehen insgesamt 14 Sensorwerte pro Zeitstempel.

Die gesamte Datenmenge setzt sich wie folgt zusammen: Zehn Testpersonen führen jeweils fünf verschiedene Bewegungen durch. Jede Bewegung wird zwanzigmal an drei unterschiedlichen Körperpositionen ausgeführt, jeweils für zehn Sekunden bei einer Abtastrate von 20 Hertz. Pro Zeitstempel werden 14 Sensorwerte aufgezeichnet. Daraus ergibt sich folgende Datenmenge:

10 Personen × 5 Bewegungen × 20 Wiederholungen × 3 Positionen × 10 Sekunden × 20 Abtastungen pro Sekunde × 14 Sensorwerte = 8.400.000 Datenwerte

Für die technische Umsetzung kommt eine eigens entwickelte Echtzeit-WebSocket-Schnittstelle zum Einsatz, über die die Smartwatch kontinuierlich mit einem webbasierten Dashboard kommuniziert. Die erfassten Sensordaten werden in Echtzeit visualisiert, mit Aktivitätslabels versehen und automatisch in einer Datenbank gespeichert. Vor jeder Messreihe erfolgt eine Kalibrierung der Sensoren, um Vergleichbarkeit und Messgenauigkeit zu gewährleisten.

Zur Analyse und Modellierung der Bewegungsdaten werden verschiedene Verfahren des maschinellen Lernens eingesetzt. Neben klassischen Algorithmen wie Random Forest, CatBoost, Gradient Boosting und Support Vector Machines liegt der Fokus auf rekurrenten neuronalen Netzen vom Typ Long Short-Term Memory. Aufgrund ihrer Fähigkeit, zeitliche Abhängigkeiten in sequenziellen Daten zu erfassen, eignen sich diese Modelle besonders gut für die Analyse kontinuierlicher Sensordaten. Die Trainings- und Testphasen umfassen sowohl Multiklassenklassifikationen zur Erkennung spezifischer Bewegungsarten als auch binäre Klassifikationen zur Unterscheidung zwischen Bewegung und Inaktivität.

Abbildung 1 [Abb. 1]

Abbildung 1: Positionen

Ergebnisse

Die Auswertung der Sensordaten zeigt, dass sich verschiedene Mikrobewegungen mit hoher Genauigkeit klassifizieren lassen, wobei die Wahl des eingesetzten Algorithmus und die Position der Smartwatch eine zentrale Rolle spielen. Besonders das Long Short-Term Memory (LSTM)-Modell erzielt über alle getesteten Bewegungsarten hinweg die besten Ergebnisse. So können beispielsweise Beckenkippen mit einer Genauigkeit von 88.86 % und Oberkörperneigungen mit 86.26 % zuverlässig erkannt werden, unabhängig von der Sensorposition. Auch Hüftrotationen und Schulterschwünge werden mit vergleichbar hohen Werten klassifiziert, was die Eignung dieses Modells für Bewegungen aus dem Körperzentrum unterstreicht.

Im Gegensatz dazu fällt die Erkennungsgenauigkeit bei peripheren Bewegungen wie der Fußstreckung deutlich geringer aus, insbesondere wenn die Sensoren nicht direkt an der unteren Extremität angebracht sind. So erreicht das LSTM-Modell bei der Fußbewegung lediglich 35.82 % Genauigkeit, während andere Algorithmen, etwa CatBoost, für dieselbe Bewegung deutlich bessere Ergebnisse erzielen. CatBoost kann hier eine Genauigkeit von 70 % erreichen, was die Bedeutung einer differenzierten Modellauswahl je nach Bewegungstyp verdeutlicht.

Ein zentrales Ziel der Untersuchung ist die Analyse der Unterscheidbarkeit identischer Bewegungen an unterschiedlichen Körperpositionen. Hier zeigt sich, dass Bewegungen wie Beckenkippen, Hüftrotation und Oberkörperneigung über alle Sensorpositionen hinweg besonders gut erkennbar sind. Die höchste Klassifikationsleistung wird regelmäßig bei einer Platzierung der Smartwatch im Brustbereich erzielt. Bewegungen im Bereich der Extremitäten, insbesondere an den Füßen, können dagegen aus zentralen Körperpositionen nur eingeschränkt erkannt werden. Besonders auffällig ist der Leistungsabfall bei der Fußbewegung, wenn der Sensor sich am Abdomen befindet. Hier sinkt die Genauigkeit auf nur 64.55 %.

Zur genaueren Einschätzung der Modellergebnisse wird auch die Fähigkeit des LSTM-Modells untersucht, Bewegung von Inaktivität zu unterscheiden. Dazu werden binäre Klassifikationsmodelle für jede Bewegung und jede Sensorposition separat trainiert. Die Ergebnisse belegen, dass sich Bewegungs- und Ruhephasen besonders dann zuverlässig voneinander abgrenzen lassen, wenn Gyroskop- und Beschleunigungsdaten gemeinsam verwendet werden. So kann bei der Kombination beider Sensorarten am Fußgelenk eine Erkennungsgenauigkeit von 79.34 % erzielt werden. Im Gegensatz dazu sinkt die Genauigkeit deutlich, wenn nur ein einzelner Sensortyp, etwa der Magnitudewert, verwendet wird. Hier liegt die Klassifikationsleistung bei lediglich 23.93 %, was die Notwendigkeit sorgfältig ausgewählter Sensorkombinationen unterstreicht.

Besonders eindrucksvoll sind die Ergebnisse bei der Unterscheidung von Bewegung und Nichtbewegung bei bestimmten Bewegungsmustern. So erreicht das LSTM-Modell bei der Erkennung von Hüftrotationen eine Genauigkeit von 99.92 %, bei Beckenkippen 99.91 % und bei Oberkörperneigungen 99.72 %. Diese Werte zeigen, dass die Klassifikation besonders bei Bewegungen aus dem Körperzentrum eine extrem hohe Treffsicherheit erreicht, unabhängig davon, ob der Sensor am Brustkorb, Bauch oder Fußgelenk getragen wird.

Insgesamt belegen die Ergebnisse, dass die Kombination aus geeigneter Sensorplatzierung, gezielter Sensorauswahl und algorithmischer Anpassung entscheidend für die erfolgreiche Klassifikation von Mikrobewegungen ist. Während das LSTM-Modell in vielen Fällen herausragende Leistungen erbringt, zeigt sich, dass für bestimmte Bewegungen, insbesondere der unteren Extremitäten, alternative Modelle oder ergänzende Sensorsysteme notwendig sein könnten. Diese Erkenntnisse bilden eine zentrale Grundlage für die Entwicklung eines adaptiven, patientenspezifischen Bewegungserkennungssystems, das sich flexibel an unterschiedliche körperliche Gegebenheiten und Pflegekontexte anpassen kann.

Abbildung 2 [Abb. 2], Tabelle 1 [Tab. 1]

Abbildung 2: LSTM Live

Tabelle 1

Diskussion

Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass KI-gestützte Sensorsysteme ein vielversprechendes Werkzeug zur Erkennung dekubitusrelevanter Mikrobewegungen sind. Besonders rekurrente neuronale Netze wie LSTM erreichen in der Testumgebung hohe Genauigkeiten bei der Klassifikation zentraler Bewegungsmuster wie Beckenkippen oder Oberkörperneigung. Die zuverlässige Unterscheidung von Bewegung und Inaktivität mit über 99 % Genauigkeit unterstreicht das Potenzial dieser Technologie für den pflegerischen Einsatz.

Zu beachten ist jedoch, dass diese Resultate unter Laborbedingungen entstanden. In der Pflegepraxis sind deutlich komplexere Rahmenbedingungen zu erwarten. Individuelle Bewegungsmuster, Lagerungsabweichungen, technische Störungen und äußere Einflüsse wie Kleidung oder Bettmaterial können die Erkennungsgenauigkeit erheblich beeinflussen. Auch minimale oder unregelmäßige Bewegungen pflegebedürftiger Personen stellen eine Herausforderung dar. Daraus ergibt sich Forschungsbedarf zur Übertragbarkeit solcher Systeme in reale Einsatzszenarien.

Ein zentrales Ergebnis ist der Einfluss der Sensorposition. Die besten Klassifikationsraten wurden bei Platzierung im Brustbereich erzielt. Bewegungen an den Füßen waren hingegen stark lageabhängig. Dies spricht für die Notwendigkeit einer adaptiven Systemarchitektur, die flexibel auf Körperlage, Bewegungstyp und individuelle Gegebenheiten reagieren kann. Idealerweise erkennt das System selbst die beste Sensorposition und das geeignetste Modell für die jeweilige Situation.

Neben technischer Anpassungsfähigkeit sind auch inhaltliche Erweiterungen denkbar. Die Integration individueller Risikoprofile sowie lernfähige Algorithmen könnten die Personalisierung weiter verbessern. Ein System, das sich kontinuierlich an neue Bedingungen anpasst, wäre ein wertvoller Schritt hin zu einem intelligenten Frühwarnmechanismus.

Langfristig eröffnen sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten: von der Dekubitusprävention über die automatische Dokumentation pflegerischer Aktivitäten bis hin zur Mobilitätsförderung. Rückmeldemechanismen wie akustische oder taktile Signale könnten Patientinnen und Patienten zur Durchführung kleiner Bewegungen motivieren und so die Eigenmobilität fördern.

Diese Arbeit liefert eine fundierte Basis für die Entwicklung intelligenter, adaptiver Assistenzsysteme in der Pflege. Für eine erfolgreiche Umsetzung sind jedoch weitere Studien unter realen Bedingungen notwendig, um Praxistauglichkeit, Akzeptanz und technische Zuverlässigkeit umfassend zu bewerten.


Literatur

[1] IQTIG – Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Bundesauswertung Dekubitusprophylaxe. Erfassungsjahr 2023. IQTIG; 2024. Verfügbar unter: https://www.iqtig.org/veroeffentlichungen/bundesauswertung/
[2] Nurwulan NR, Selamaj G. Random Forest for human daily activity recognition. Journal of Physics: Conference Series. 2020;1655: 012087. DOI: 10.1088/1742-6596/1655/1/012087
[3] Staab S. Entwicklung von Klassifizierungsverfahren zur automatisierten Dokumentation von Alltagsaktivitäten. Hochschulbibliothek RheinMain; 2024. Verfügbar unter: https://hlbrm.pur.hebis.de/xmlui/handle/123456789/151